Behalt das Leben lieb
Bäcker. Das war ein schwacher Trost.
An diesem Abend wollte der Schlaf nicht kommen. Immer wieder dachte Beer an das Gespräch mit dem Studenten. Sterben. Das schien das Schlimmste zu sein, was es gab. Aber warum? War das Leben denn etwas so unentbehrlich Schönes? Und wieder: warum?
Beer versuchte, die schönsten Dinge seines Lebens aufzuzählen:
Ferien. Aber wenn man einmal darauf verzichten musste, war es auch nicht schlimm.
Geburtstag. Nun ja.
Sport. Eine ganze Menge Leute war gar nicht sportlich.
Nikolaus, Weihnachten, Silvester. Alles gemütliche, fröhliche Tage, aber unentbehrlich waren sie nicht.
»Nein«, murmelte Beer. Solch eine Aufzählung half nicht weiter. Wegen dieser Dinge wollte man doch nicht eigens leben. Umgekehrt gab es eine Menge hässlicher Dinge und die fielen einem viel schneller ein:
Krieg wie in Vietnam.
Sterben. Und der Student war noch so jung.
Wenn sich Vater und Mutter scheiden ließen.
Klein-Jan, Beers Nachbar, der spastisch gelähmt war und immer in einem Wagen saß.
Armut, Hunger. Und war es nicht schrecklich, wenn man daran dachte, dass drei Viertel der Menschen auf der Erde unter Armut und Hunger litten?
»Seltsam«, flüsterte Beer. Es gab viel mehr schlimme, traurige, schreckliche als schöne Dinge im Leben. Aber deswegen wollte man doch nicht gleich sterben.
Was gab dem Leben dann eigentlich so viel Sinn? Dass man Vater und Mutter liebte, obwohl sie einander manchmal kaum mochten? Und Annemiek? Und Goof und Ben . . .? Ja, das war es. Unentbehrlich im Leben waren die Menschen, die man liebte. Und alles andere – die schönsten und hässlichsten Dinge – kam erst an zweiter Stelle.
»Mann«, sagte Beer erleichtert. Wenn er auchblind war, das Wichtigste war dennoch nicht verloren gegangen. Menschen konnte man auch mit verschlossenen Augen lieben.
Die Tage verrannen. Die Geräusche am Morgen: Thermometerausteilen und Morgenwäsche. Ein nasser Lappen klatschte auf den Fußboden. Die Arztvisite. Der dicke Verband, der so gejuckt hatte, war Gott sei Dank durch einen leichten ersetzt worden, den man mit Pflastern befestigt hatte. Die Geräusche des Mittags: das Essenausteilen, das Geklirr von Messern und Gabeln. Und die klagende Stimme des Junkers: »Ich krieg keinen Bissen runter.«
Meistens führte Schwester Ria Beers Hand, manchmal auch der Student.
»Versuch jetzt mal, allein zu essen«, hatte er eines Mittags gesagt. »Rechts auf deinem Teller liegt das Fleisch, es ist in kleine Stücke geschnitten. Das andere hab ich mit der Gabel zerdrückt.«
»Ach, ich klecker bloß«, hatte Beer abgewehrt.
»Das macht doch nichts! Später wirst du nicht mehr kleckern.«
»Ich kann es nicht sehen.«
»Du kannst es doch fühlen? Fledermäuse sind auch blind. Trotzdem fliegen sie fehlerfrei um Bäume herum, durch Zweige hindurch, an einer Wand oder einem Dach entlang. Und weißt du, warum?«
»Nein.«
»Jeder Gegenstand sendet Schwingungen ausund diese Schwingungen fangen die Fledermäuse auf. Ich glaube, der Mensch verfügt auch über solch ein Radarsystem. Bemüh dich, es zu entwickeln, Beer. So wirst du unabhängig!«
»Glaubst du, dass ich das kann?«
»Aber natürlich. Ich hab Blinde schon Fußball spielen sehen. Stell dir das mal vor: Zwei Mannschaften in einer großen Halle. Spieler, die fast nichts mehr sehen. Trotzdem finden sie den Ball. Sie dribbeln, geben Vorlagen, schießen Tore. Niemand begreift, wie das möglich ist. Trotzdem ist es so. Sie hören, wo der Ball ist. Sie spüren, wo ihr Gegenspieler steht.«
Beer hatte Messer und Gabel genommen. Er tastete am Tellerrand entlang, pickte mit der Gabel Fleisch auf, schob mit dem Messer das zerdrückte Essen auf die Gabel – und ohne besonders viel zu kleckern, hatte er ganz allein seine erste warme Mahlzeit verzehrt.
Danach hatte ihn der Student mit auf den Korridor genommen. Plötzlich hatte er Beers Arm losgelassen: »Lauf mal allein!«
»Aber . . .«
»Doch, du kannst es. Vorwärts, immer geradeaus.«
Beer war vorsichtig weitergetappt, doch auf einmal war er stehen geblieben.
»Warum gehst du nicht weiter?«
»Ich . . . ich hab das Gefühl, dass da irgendwas steht.« Beer hatte seine Arme ausgestreckt. Und wirklich! Vor ihm war eine Wand.
»Siehst du?«, rief der Student triumphierend. »Siehst du, dass du es spürst?«
Beer war sich dessen noch nicht ganz sicher, aber es stimmte, dass er dicht vor der Wand stehen geblieben war.
Die Geräusche des Nachmittags: erst das Mittagsschläfchen und
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