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Behalt das Leben lieb

Behalt das Leben lieb

Titel: Behalt das Leben lieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaap Ter Haar
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geschehen war, wenn er das Gefühl hatte, dass das Leben ihn zu kurz kommen ließ. Und aus diesem Angsttraum erwacht fühlte Beer sich niedergeschlagener und verlassener als je zuvor.
    Die Geräusche verrieten ihm, dass es noch Nacht sein musste. Die Treppe knarrte, wie man es am Tage nie hören konnte, und auf der Straße war kein Verkehr. War es ein Uhr? Oder ging die Sonne schon auf?
    Um die schwüle Beklemmung des Traums vonsich abzuschütteln, schlug Beer die Decke zurück und setzte die Füße auf den Fußboden. Im Traum war er den schwarzen, sich windenden Schlangen immer entkommen. Nun schien es, als hätte eine dieser Bestien ihn doch gepackt und sich um seinen Hals gewunden.
    »O Gott!«
    Erbittert schlug er die Hände an die Stirn und es schien, als wolle er die Dunkelheit vor seinen Augen fortrücken. Er wusste sich keinen Rat. Er stand auf und ging vorsichtig zum Waschbecken, um die brütende Angst mit kaltem Wasser von seinem Gesicht zu spülen. Seine Hände fanden den Stuhl und berührten dann die Zimmertür, die halb geöffnet war. Erst jetzt hörte er aus dem Schlafzimmer die undeutlichen Stimmen von Vater und Mutter. War es doch schon Morgen? Oder hatte die Nacht erst begonnen?
    »Geh lauschen!«, sagte eine zwingende, innere Stimme.
    Warum lauschen?
    Weil ein nächtliches Gespräch zwischen Vater und Mutter wichtig sein musste. Weil es keinen Zweifel gab, dass es um seine Blindheit ging.
    Auf Zehen schlich Beer den Korridor entlang. Es war nicht seine Art, den Lauscher an der Tür zu spielen, aber die Blindheit hatte ihn doch ein bisschen misstrauisch gemacht. Er suchte nach Gewissheit, weil so vieles in ihm noch schwankend und unsicher war.
    Trotz der geschlossenen Tür konnte Beer dieStimmen von Vater und Mutter verstehen. Sie klangen manchmal erregt und manchmal zerbrechlich wie dünnes Kristall.
    »Ich begreife das nicht. Der Direktor ist doch ein so netter Mann.« Mutters Stimme, erregt und heftig.
    »Ja, das stimmt. Und im Lehrerkollegium haben sie ehrlich nach Möglichkeiten für Beer gesucht. Aber das Ergebnis war negativ.« Das war Vaters Stimme, niedergeschlagen und unsicher.
    Beer sah Vater und Mutter vor sich: Sie saßen im Bett. Und natürlich steckten sie eine Zigarette an der anderen an.
    »Und was nun?«
    »Ich hab dir schon gesagt, dass der Direktor eine Blindenanstalt für die beste Lösung hielt.«
    »Nein, nie.«
    »Aber wenn sie das aufrichtig glauben? Sie haben doch mehr Erfahrung als wir.«
    »Nur über meine Leiche.«
    Entsetzt suchte Beer am Treppengeländer Halt. Seine Beine zitterten vor Erregung. Nachdem er wochenlang die Blindenschrift geochst und sich mit der Schreibmaschine herumgequält hatte, nach all der mühseligen Arbeit mit Tjeerd waren die Worte aus dem Schlafzimmer wie Dolchstöße in den Rücken.
    »Vielleicht gibt es wirklich keine bessere Lösung«, murmelte Vater und seine Stimme klang müde. »Ich hab geredet wie ein Wasserfall. Ich hab gebettelt und gefleht, ich hab gesagt, dass wirhundertprozentig hinter Beers Arbeit stehen werden.«
    »Diese Unmenschen!«
    »Das darfst du nicht sagen. Wir können die Probleme noch nicht übersehen.«
    »Aber wir haben Beer doch versprochen . . .«
    Es wurde still, dann hörte Beer seine Mutter weinen.
    »Hier, nimm das Taschentuch. Hör auf. Mit Weinen kommen wir keinen Schritt weiter.« Vaters tröstende Stimme.
    »Wie kommen wir denn weiter?«
    »Nicht, wenn wir den Mut verlieren. Ich . . . ich hab vor, morgen oder übermorgen zur Blindenanstalt zu fahren. Einfach mal bei Fachleuten erkundigen.«
    »Nein, nein, das nicht!«, sagte Mutter, noch halb schluchzend. »Verflixt noch mal, wir brauchen uns doch nicht dem Direktor zu fügen!«
    »Was hast du denn vor?«
    »Ich könnte den Schulrat aufsuchen. Ich kann Unterschriften von den Eltern der Kinder in Beers Klasse sammeln.«
    »Unterschriften?«, fragte Vater verwundert.
    »Dass sie gegen einen Blinden in der Klasse nichts einzuwenden haben.«
    »Wieso denn ›einzuwenden‹?«
    »Weil es besondere Anforderungen an die Klasse stellt. Durch Beers Anwesenheit könnte der Unterricht aufgehalten werden.«
    Wieder war es still. Ein Feuerzeug wurde angeknipst.Mutter schluchzte noch einmal. Jetzt starrten sie beide vor sich hin und überlegten, was für ihren Sohn das Beste wäre.
    Beer hatte Mühe, nicht laut aufzuschreien. Zu allem Übrigen hatte nun auch sein Stolz einen tüchtigen Knacks gekriegt. Unterschriften sammeln! Lieber würde er sich die rechte Hand absägen,

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