Behalt das Leben lieb
denn in Gedanken stieg nun ganz deutlich das Bild des Studenten vor ihm auf – obwohl er ihn nie leibhaftig gesehen hatte. Und ihm war plötzlich klar, dass er diesen Freund nie vergessen würde. Ja, ein Teil von dem Studentenwürde in ihm fortleben, wie er es damals in Saal 3 gewünscht hatte.
Beer, im Studium habe ich gelernt, dass blinde Menschen manchmal misstrauisch sind. Das ergibt sich fast von selbst aus der Tatsache, dass sie nicht sehen können. Ich wünsche inständig, dass du dem Leben immer voller Vertrauen begegnest. Nichts wirkt so erstickend wie Misstrauen.
Behalt das Leben lieb, auch wenn es dich enttäuscht, und mach was daraus.
Die letzten Worte verklangen in der Morgensonne, die durchs Fenster ins Zimmer fiel. Mutter öffnete das Päckchen.
»Es . . . es ist eine goldene Uhr. Junge, so eine dicke, runde, altmodische Zwiebel!« Vorsichtig legte sie die Uhr in Beers Hand.
Und da konnte Beer nicht länger an sich halten. Er wollte nicht weinen, aber zu viele Gefühle wühlten ihn auf. Es würgte ihn, dass er fast erstickte, und schließlich brach es los. »Mutter!«
Er weinte so heftig und hemmungslos, als bräche der Kummer von Wochen nun plötzlich aus ihm hervor. Er weinte wegen des Studenten. Wegen des Briefes. Wegen der ganzen Welt, die hinter diesem Brief steckte und so voller Traurigkeit war.
Und auf einmal rief er schluchzend: »Ich weiß, was der Direktor gesagt hat. Das macht jetzt auch nichts mehr!«
Mutter legte den Arm um seine Schulter. So saßen sie, bis Beer sich wieder beruhigt hatte.
»Wir schaffen es schon, mein Junge.«
Beer nickte und machte sich von Mutter los. Er dachte an den Studenten und wusste genau, was er mit seinem Brief gemeint hatte.
An einem stillen Nachmittag im Krankenhaus hatte er ungefähr dasselbe gesagt: »Beer, trotz deiner Blindheit gehörst du noch immer zur bevorrechteten Jugend. Denn die Hälfte deiner Alterskameraden in vielen Teilen der Welt ist noch viel schlechter dran als du. Denk ab und zu daran und behalte das Leben trotz allem lieb, auch wenn es manchmal schlechter ausfällt, als man erwartet.«
Beer stand auf und ging zum Fenster.
»Tut mir leid, dass ich mich so hab gehen lassen«, sagte er. Und dann, etwas sicherer: »Das passiert mir nicht mehr.« Mit hohem, hellem Ton schlug die goldene Uhr halb zehn.
9
Erst später, viel später, erkannte Beer, dass der Brief des Studenten eine große Veränderung bewirkt hatte. Der Brief und die Uhr hatten dem Selbstmitleid Beers ein Ende gemacht. Jeder Mensch hatte wohl seine Last zu tragen. War es danicht kurzsichtig, sich nur mit den eigenen Problemen zu beschäftigen?
Und noch viel später begriff Beer, dass er mit diesem Brief eine Schwelle überschritten hatte. Von diesem Augenblick an trat er dem Leben stärker und bewusster entgegen: nicht länger als Behinderter, auf den jedermann Rücksicht nehmen musste, sondern als ganz normaler Mensch, der sich nicht in die Ecke stellen ließ.
Natürlich musste er sich manchmal gegen die Außenwelt wehren, die ihn nur zu oft »bedauernswert« fand. Das wurde ihm noch am gleichen Tag klar, als Frau De Reus ihn in einem mitleidigen Ton anredete: »Ach Beer, du, wie geht’s denn jetzt? Ich finde es schrecklich für dich, dass du blind bist. Furchtbar!«
Was sollte man darauf antworten? »Ich bin lieber blind als dumm«, hatte Beer geantwortet, obgleich das auch nicht gerade nett klang.
Allmählich lernte er es, mit einem Scherz zu antworten: »Ich lebe in blindem Vertrauen. Das kann nicht jeder.«
Beer begriff schon, dass Blindheit für die anderen etwas Beängstigendes war. Dass sie ihn manchmal mitleiderregend fanden, hörte er aus ihren Stimmen. Dann sagte er, um sie zu beruhigen: »Ja, es ist schlimm. Aber man kann ganz gut damit leben. Und weißt du auch, dass ich umsonst reisen kann? Überallhin?«
»Wirklich? Ist das wahr?«, fragten sie dann erstaunt.
»Ja, als blinder Passagier.«
Waren es auch nicht gerade tolle Witze, so lösten sie doch oft die Spannung. Mit ein bisschen Humor und Selbstironie konnte Beer zumindest zeigen, dass er seine Blindheit auf sich nahm.
Natürlich gab es auch Augenblicke, in denen Pessimismus die Oberhand gewann. Glücklicherweise schlug dann jede halbe Stunde die Uhr des Studenten. »Mach was draus!«, hieß das und Beer richtete sich meist von selbst wieder auf. So kämpfte er mit sich selber und lernte es, die Blindheit im Auf und Ab seines Lebens zu bewältigen.
Leider nahmen die Sorgen der Eltern
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