Behalt das Leben lieb
auch war, so brachte sie doch ein Gefühl der Erleichterung. Denn zugleich dachte Beer an andere Gebiete, auf denen er nicht im Abseits stehen würde.
»Los, Leute, zeigt es ihnen!«, rief Beer über den Platz. Es war eine Art Abschiedsgruß an seine alte Mannschaft, die ihm teuer gewesen war und ihm ein Tandem geschenkt hatte. Denn jetzt wusste er es genau: Die Welt der Fußballer konnte nicht länger seine Welt sein.
Erst später, viel später, begriff Beer, was in diesen Minuten am Rande des Fußballplatzes in ihm vorgegangen war. Gerade bevor Bennie das ersteTor schoss, richtete er sein Leben vom Sichtbaren und Körperlichen auf das Geistige, das Wesentliche der menschlichen Existenz. Ging dies auch unbewusst vor sich, so wurde ihm etwas davon doch deutlich.
Er musste gerade an die Worte seines Vaters kurz nach dem Unfall denken: »Weißt du, Beer, Augen lenken uns meistens von der Hauptsache ab.« Gerade als ihm dieser Satz einfiel, erscholl auf dem Platz begeisterter Jubel. Nach einer Vorlage von Goof hatte Bennie seine Elf mit einem gelungen Schuss in Führung gebracht.
Die Welt, in der er nicht im Abseits zu stehen brauchte und mit der er sich jetzt vertraut machte, das war die Welt der Bücher und Gespräche, der Gedanken und der Musik. Es war eine Welt, die auch von Tjeerd erfüllt wurde.
Der stille, schüchterne Tjeerd war ganz anders, als Beer ihn sich früher vorgestellt hatte. Es war erstaunlich, was er alles wusste, wie viel er gelesen und nachgedacht hatte. Jeden Nachmittag kam er für ein, zwei Stunden zu Besuch. Dann hatte er vorher schon haargenau ausgetüftelt, was er mit Beer tun wollte.
»Jetzt wiederholen wir erst die Latein-Vokabeln«, konnte er mit entschiedener Stimme sagen. »Und dann machen wir Französisch.«
Mit einer Art leidenschaftlicher Geduld sagte er lateinische oder französiche Wörter her und las – manchmal zwei-, dreimal – verschiedene Texte vor.
»Wir müssten ein Tonbandgerät haben«, sagte er eines Nachmittags, als er einen schwierigen Abschnitt Biologie wiederholt hatte. »Mit einem solchen Gerät könnten wir eine Menge Zeit gewinnen.«
»Das schon, aber solche Sachen sind ziemlich teuer«, hatte Beer geantwortet.
»Wir kaufen trotzdem eins.«
»Was?«
»Ich hab ein sehr schönes gesehen, das können wir auf Abzahlung kriegen.«
»Aber Tjeerd, meine Eltern hatten schon so viele Ausgaben. Ich kann sie nicht darum bitten. Wirklich nicht.«
»Wir können es doch selber verdienen.«
»Selber verdienen? Wie soll ich denn das machen?«
»Wir übernehmen zusammen einen Bezirk zum Zeitungsaustragen. Bevor ich herkam, hab ich rumtelefoniert. ›Het Parool‹ kann noch Zusteller gebrauchen. Du wirst sehen, wie schnell die Zeitungen verteilt sind, wenn wir das zusammen auf dem Tandem machen!« In Tjeerds bedächtiger Stimme schwang eine erwartungsvolle Erregung.
Plötzlich begriff Beer, dass er nicht der Einzige war, der durch seine Erblindung eine neue Welt betreten hatte. Seine Erblindung hatte auch den stillen, zurückgezogenen Tjeerd aus seiner Einsamkeit herausgelöst und zu menschlichen Abenteuern geführt, von denen er früher nicht geträumt hätte.Langsam, unaufhaltsam begannen die Gesichter von Vater und Mutter, von Annemiek, Freunden und Bekannten in Beers Vorstellung zu verblassen. Sie verschwanden in der ungreifbaren Dämmerung, die hinter Beers Augenlidern verborgen war. Anfangs machte es ihn traurig, aber er gewöhnte sich daran. Das Äußere der Menschen spielte keine Rolle mehr. Weder langes noch kurzes Haar, weder Kleidung noch Schmuck konnten ihm helfen, die Menschen zu erkennen, denen er begegnete. An die Stelle des Äußeren trat allmählich etwas anderes, das vielleicht ebenso wertvoll sein konnte. Das war nicht in Worten oder Bildern auszudrücken, denn es ging um die Seele. Beer wurde sich dessen bewusst, als er mit Tjeerd zum ersten Mal Zeitungen austrug. In irgendeinem Haus hatte Tjeerd den Briefkasten nicht finden können und deshalb einfach geklingelt. Eine wildfremde Frau hatte geöffnet und ein Schwätzchen mit Tjeerd gehalten. In diesen wenigen Minuten hatte Beer sich ein deutliches Bild von ihr ausgemalt.
»Was für ein trauriger Mensch.«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Tjeerd, bass erstaunt.
»Das hör ich an ihrer Stimme.«
»Aber so traurig kam sie mir nicht vor. Und sie sah sehr hübsch aus.«
»Wetten?«
Und wirklich, am nächsten Tag stellte sich heraus, dass diese Frau ihren Mann verloren hatteund in ihrem
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