Behalt das Leben lieb
stehen.
»Ha, Beer!« Die Züge und Flugzeuge warenvergessen. »Sollen wir dich auf die andere Straßenseite bringen?«
»Gern«, sagte Beer.
Eine verschwitzte und eine kühle Kinderpfote nahmen ihn an die Hand. Langsam gingen sie den Parkweg entlang.
»Meine Oma ist taub. Das ist auch schlimm«, sagte Gijs.
»Und meine Tante sitzt in einem Rollstuhl, weil sie nicht laufen kann. Das ist noch viel schlimmer«, meinte Jan. Fingen sie schon wieder an?
»Wenn man verrückt ist, das ist noch schlimmer«, rief Gijs.
»Mein Opa ist tot. Das ist das Allerschlimmste!« Jans Stimme klang fröhlich, weil er Gijs mit einem toten Großvater nun doch endlich übertrumpft hatte.
»Du bist da, Beer.«
»Ja, ich merk’s. Habt schönen Dank!« Beer tippte mit seinem Stock gegen die Bordsteinkante, diesen sicheren Wegweiser auf dem Nachhauseweg.
Die Stimmen von Gijs und Jan wurden undeutlicher: »Wollen wir mal probieren, wer am weitesten mit geschlossenen Augen laufen kann?«
»Nee!«
»Warum nicht?«
»Wenn man mit geschlossenen Augen immer weiterläuft, kommt man vielleicht nach Amerika. Oder nach Afrika. Oder nach Den Haag.«
»Das geht nicht!«
»Doch!«
»Nein!«
Beer ging lächelnd nach Hause, den Stock immer an der Bordsteinkante.
Auch für die Nachmittage gab es einen festen Plan. Nach dem Kaffeetrinken arbeitete Beer mit Mutters Hilfe eine Stunde, bis Tjeerd kam und alle Aufmerksamkeit auf die Schularbeit gerichtet wurde. Und dann gab es auch noch die Abende, an denen er mit Vater zusammen arbeitete, bis um zwanzig Uhr die Nachrichten kamen.
»Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg«, hatte Vater gesagt, als Beer gerade erst aus dem Krankenhaus gekommen war und sie über Beers Arbeitsplan gesprochen hatten.
Mutter hatte protestiert: »Ihr nehmt euch zu viel vor.«
»Vom Arbeiten ist noch niemand gestorben.«
»Ja, aber . . .«
»Wenn Beer etwas erreichen will, wird er härter arbeiten müssen als andere. Es ist besser, er fängt gleich damit an.« Vater wollte, dass er ein normaler Junge blieb. Und das war gut so. Oder konnte er die Blindheit seines Sohnes und deren Folgen noch nicht ganz akzeptieren?
»Ja, aber . . .«
»Vater hat recht«, hatte Beer hinzugefügt. »Und außerdem, was sollte ich sonst mit all meiner Freizeit anfangen?« Niedergeschlagenheit und Hoffnung sollten einander von nun an abwechseln undmanchmal quälte Beer sich bis zu Tränen. Aber einen anderen Weg gab es nicht und er musste zurückgelegt werden.
Noch ein Mal ging Beer zum Fußballplatz. Er wollte dabei sein, wenn das letzte Spiel der Spielzeit ausgetragen wurde. Es kostete doch einige Mühe, jemanden für den Vordersitz des Tandems zu finden. Bennie musste nach dem Spiel gleich nach Hause. Goof musste mit seinen Eltern nach Amsterdam. Gompie hatte Nachhilfestunde. Endlich, nach allerlei Telefongesprächen, war Geert bereit, ihn abzuholen. Im Umkleideraum saß Beer wieder zwischen seinen alten Freunden. Sie waren alle sehr nett zu ihm. Das schon. Doch immer stärker beschlich ihn das Gefühl, dass der Fußballplatz nicht länger seine Welt sein konnte. Warum? Lag es an den Gesprächen, die um ihn herum geführt wurden?
»Wollen wir heute Abend ins Kino gehen?« Dikkie zu Gomp. Es wurde über einen James-Bond-Film gesprochen, den einige schon gesehen hatten.
»Morgen fängt das große Tennisturnier an.«
»Gehst du zuschauen?«
»Ich denke schon.«
»Ich nicht. Ich geh zum Baseball.«
All diese Stimmen gehören in die Welt von früher, dachte Beer. Sätze, die früher aufregend gewesen waren, erreichten ihn kaum noch. James Bond, Tennis, Baseball. Das war alles interessant und nett – wenn man sehen konnte.
Während des Spiels stand Beer ein bisschen verloren neben dem Tor von Geert. Das Geschrei auf dem Spielfeld war genauso heftig und scharf wie voriges Mal.
»Vorsicht, Abseits«, rief Dikkie im Mittelfeld. Diese Worte blieben bei Beer haften. War es nicht das Schlimmste im Leben, im Abseits zu stehen? Und war das nicht genau jenes Gefühl, das ihn im Umkleideraum befallen hatte: Er wurde geduldet, aber er gehörte nicht wirklich dazu.
»Ich stehe hier wie ein Maskottchen«, sagte er zu sich selbst. Kein Kaninchen, wie es die holländische Nationalmannschaft besaß, sondern ein dummer, blinder Bär.
Ein Schuster soll bei seinem Leisten bleiben. Für einen Mann, der Straßen pflastert, gibt es auf See keine Arbeit. Ein Blinder auf einem Fußballplatz schien vollkommen überflüssig.
Wie schmerzlich diese Einsicht
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