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Behalt das Leben lieb

Behalt das Leben lieb

Titel: Behalt das Leben lieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaap Ter Haar
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einsam gewordenen Leben nicht Fuß fassen konnte.
    »Wie kannst du das wissen von jemandem, den du noch nie gesehen hast?«
    Beer dachte eine Weile nach, bevor er antwortete: »Seit ich blind bin, ist eine Begegnung mit Menschen wie gute oder schlechte Musik. Musik kann man auch nicht sehen. Aber die Klänge durchdringen einen und rufen vielerlei Gefühle und Gedanken hervor. So ist es bei mir mit den Menschen. Wenn ich sie auch nicht sehe, so nehme ich doch ihre Stimmen wahr, und dann . . . dann spüre ich, wie sie sind.«
    »War das früher auch so?«
    Beer schüttelte den Kopf.
    »Wie kommt das?«
    »Alles, was du siehst, lenkt dich ab. Schmutzige Fingernägel oder ein ausgefranstes Oberhemd. Oder unruhige Augen. Oder . . . oder ein lachender Mund. Bei dieser Frau hast du vielleicht auf ihr hübsches Kleid geschaut oder auf eine antike Uhr im Korridor oder auf was weiß ich. Für mich zählt das alles nicht mehr. Für mich muss die Stimme ausreichen. Und in jeder Stimme steckt immer auch ein Stückchen Seele!«
    »Toll«, war alles, was Tjeerd sagte.
    Aber es gab noch mehr. Seit er blind war, begann Beer zu entdecken, dass die Menschen viel verwundbarer waren, als er früher geglaubt hatte. Spannte nicht jeder im Alltagsleben eine Art Schirm auf, hinter dem die wahren Gefühle verborgenwurden? Verbarg sich hinter freundlichen, aufgeschlossenen Gesichtern nicht oft eine Welt der Einsamkeit, der Trauer, des Neides oder der Angst?
    Früher hatte er das einfach übersehen. Jetzt, wo er blind war, nahm seine Menschenkenntnis zu, und da er nicht Medizin studieren konnte, spielte er ab und zu mit dem Gedanken, Psychologe zu werden – so wie der Student. Ja, vielleicht hatte die Erfahrung des Unglücks wirklich etwas Gutes. Aber sein Missgeschick hatte auch bittere und höchst dramatische Seiten. Auch das musste Beer erfahren.

8
    Jeder, der heranwächst, muss einen Weg voller Hindernisse zurücklegen – und auch später bleibt es so. Jeder Mensch gerät ab und zu in ein solches Hindernis. Da beginnt dann meist der Kampf gegen das eigene Ich, manchmal auch gegen die unmittelbare Umgebung oder gegen die ganze Welt (die alle die Schuld kriegen) und schließlich auch gegen Gott.
    Diese Hindernisse sind einsame Stellen ohne Ausblick. Da kann es einem genauso ergehen wie einem gefangenen Fasan, der am Maschenzauneines Geheges ratlos hin und her läuft, ohne einen Durchschlupf in die Freiheit zu finden.
    Mehrmals geriet auch Beer in solche Hindernisse. Vor allem an Tagen, da die Arbeit nicht vorangehen wollte, geriet Beer in tiefe Verzweiflung. Dann senkte sich die Blindheit unentrinnbar auf ihn nieder: Dann schien das Leben ganz und gar aussichtslos.
    »Verdammt, verdammt, verdammt!«, konnte er schreien, wenn er unter Mutters Anleitung Schreibmaschine schrieb und nicht die richtigen Tasten fand – und sich so sehr wünschte die Buchstaben, sei es auch nur ganz kurz, in Wirklichkeit zu sehen.
    Doch letztlich war es so, dass ihn in Zeiten solcher Depressionen nicht nur die eigene Blindheit, sondern die ganze in Kampf und Armut verwickelte Welt bedrückte. In diesem Zustand stieß er gegen Möbel, stolperte er über Türschwellen, und seine Finger entzifferten keinen einzigen Buchstaben. Innerlich fluchend, ohne voranzukommen, arbeitete er sich durch solche verzweifelten Tage hindurch. Dann schienen aufs Neue die Worte zu gelten, die er zu Schwester Wil gesagt hatte: »Mein Leben, mein ganzes Leben ist verpfuscht!«
    Aber wie die meisten Menschen verfügte auch Beer über einen zähen Mut. Immer wieder fand er die Kraft, sich aus der Verzweiflung herauszuarbeiten, und dann merkte er: Je mehr er sich entkrampfte, je natürlicher er sein Schicksal annahm,desto besser konnte er in Gedanken die ihn umgebende Welt sehen.
    »Ich lebe von einem Hindernis zum anderen«, hatte er eines Abends zu seinem Vater gesagt. Reichlich eine Stunde hatten sie zusammen an der Schreibmaschine gesessen und er hatte nichts zustande gebracht.
    »Das ist klar«, hatte Vater geantwortet. »Aber du wirst sehen, die Hindernisse werden immer leichter.«
    Zwei Tage später stürzte Beer in einen so tiefen Abgrund, dass er sich verzweifelt fragte, ob es überhaupt noch einen Sinn habe, weiterzuleben.
    »Huh?«
    Beer wurde wach und richtete sich auf. Er wunderte sich, dass die Gardinen und Fensterscheiben sich nicht abhoben gegen das Licht der Straßenlaterne. Dann wusste er es wieder: blind!
    Er hatte wieder von den Schlangen geträumt, wie es schon öfter

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