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Behalt das Leben lieb

Behalt das Leben lieb

Titel: Behalt das Leben lieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaap Ter Haar
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Güterzuges in der Ferne sich ankündigte, fiel Beer endlich in Schlaf.
    »Hast du noch geschlafen?« Von ferne Mutters Stimme. Es dauerte eine Weile, ehe Beer die Wegstreckevom Traum zur Wirklichkeit zurückgelegt hatte. Aber ein Gefühl der Befreiung stellte sich nicht ein.
    »Ich hab dein Frühstück mitgebracht!«
    Beer richtete sich etwas auf.
    »Hier ist dein Tee.«
    Beer nahm den Becher, trank einen Schluck.
    »Wie spät ist es?«
    »Ungefähr Viertel nach neun.«
    »So spät schon?«
    »Ich habe dich schlafen lassen nach dieser Nacht.« Mutters Stimme klang vorsichtig, behutsam.
    »Ihr seid auch spät schlafen gegangen.«
    »Ja«, sagte Mutter.
    »War was?«
    Mutter zögerte. Nur ganz kurz. Dann stellte sie den Teller mit den Schnitten auf den kleinen Tisch neben dem Bett. Wusste sie, wie wichtig ihre Antwort sein würde?
    »Ja, Beer, es war was.«
    »Was denn?«
    »Vater war gestern beim Direktor.«
    »Und . . .?«
    Beer hasste sich wegen dieser Frage, da er die Antwort schon wusste. Warum war es so wichtig zu wissen, ob Mutter ihm die Wahrheit sagen oder ihn schonen würde? Musste denn ein zerstörtes Vertrauen wiederhergestellt werden?
    »Und . . .?«, drängte er.
    Sie holte hörbar Atem – wie jemand, der eineschwierige Geschichte erzählen muss und nicht recht weiß, wie er anfangen soll.
    Genau in diesem Moment klingelte es an der Haustür. Mutter sprang auf: Wie ein Boxer, den der Gong rettet, dachte Beer.
    »Wer kann denn das sein«, murmelte sie, als sie eilig aus dem Zimmer lief.
    Beer blieb mit seinem Frühstück zurück; er hatte ein Gefühl der Schuld. Warum hatte er es Mutter so unnötig schwer gemacht?
    Unten ging die Tür auf. Eine Männerstimme war im Korridor zu hören: »Ein Einschreibepäckchen. Unterschreiben Sie bitte hier?«
    »Ja.«
    »Ein schöner Tag heute, was?«
    »Ja, das stimmt.«
    Ein schöner Tag! Der Briefträger musste es ja wissen, dachte Beer mit wachsender Erbitterung. Ob die Sonne schien oder nicht, war ja egal. Nach der langen, schlechten Nacht voller Enttäuschung, voller Hilflosigkeit, voller Ungewissheit blickte er in das schwarze Loch des neuen Tages. Und dennoch: Die Abgründe des Lebens können manchmal in wenigen Minuten überbrückt werden. Das sollte auch der traurige, blinde Beer erleben, als Mutter die Treppe heraufkam.
    Sie betrat das Zimmer und in diesem Augenblick beschloss Beer, sie nicht mehr nach den Worten des Direktors zu fragen. Das würde sie nur unnötig quälen. Und hatte sie nicht schon genug zu tragen?
    »Für dich ist ein Päckchen gekommen.«
    »Ein Päckchen? Für mich?«
    »Ja, ein kleines Päckchen, fühl mal.«
    Beer streckte den Arm aus. Das Päckchen passte in seine Handfläche. Es war mit Bindfaden verschnürt.
    »Von wem ist es?«
    »Von einer Frau Hielkemann«, sagte die Mutter leicht verwundert.
    »Nie gehört.«
    »Es ist auch ein Brief dabei.«
    »Na, lies vor. Oder ist er vielleicht in Blindenschrift getippt?«
    Ein zynischer Scherz, auf den Mutter nicht antwortete. Sie ging zum Waschbecken, nahm die Nagelschere und zerschnitt den Bindfaden. Papiergeraschel. Mutter öffnete den Briefumschlag. Stille. Warf Mutter schnell einen Blick auf Frau Hielkemanns Brief, wer immer das sein mochte?
    »Nein.« Mutters Flüsterstimme klang erschrocken, bestürzt, schmerzlich.
    »Was ist los?«
    »Es ist ein Brief von dem Studenten aus Saal 3«, sagte Mutter leise und plötzlich überlief es Beer kalt.
    »Von ihm?«
    Mutter schluckte. »Ich werde ihn vorlesen«, sagte sie und
setzte sich auf den Bettrand.
    Lieber Beer,
    schon dreimal habe ich angefangen, dir zu schreiben, und jedes Mal wurde der Brief so lang, dass die Worte ihre Bedeutung verloren. Deshalb, zum vierten Mal jetzt, ganz kurz.
    Wenn du diesen Brief bekommst, bin ich nicht mehr.
    Mutter putzte sich entsetzlich laut die Nase. Der Brief lag reglos in ihrer Hand. Ein Gefühl tiefer Wehmut erfüllte Beer. Er schämte sich jetzt seiner Verbitterung und Auflehnung in der vergangenen Nacht. Dann kehrten seine Gedanken zu Saal 3 zurück; zu den Gesprächen mit dem Studenten, der sich als ein treuer Freund erwiesen hatte und nun nicht mehr war.
    »O Gott«, flüsterte er bestürzt. Er biss sich auf die Lippen, denn weinen wollte er nicht.
    Mutter las mit unsicherer Stimme weiter:
    Ich schicke dir eine alte Uhr, die ich vor ein paar Jahren von meinem Großvater bekommen habe. Sie schlägt zu jeder halben und vollen Stunde, sodass du immer hören kannst, wie spät es ist.
    Beer zitterte,

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