Bei Anbruch der Nacht
nur mit dem Geld, sondern auch mit mir, dem Abend, vielleicht diesem ganzen Abschnitt seines Lebens. Er machte sich auf den Weg zu seinem Palazzo, aber nach ein paar Schritten blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. Die Gasse, in der wir waren, der Kanal, alles war jetzt still, bis auf die gedämpften Laute aus einem Fernsehapparat.
»Sie haben gut gespielt, mein Freund«, sagte er. »Sie haben einen schönen Anschlag.«
»Danke, Mr Gardner. Und Sie haben großartig gesungen. So großartig wie immer.«
»Vielleicht komme ich morgen, bevor wir abreisen, noch einmal auf die Piazza. Um Sie und Ihre Truppe spielen zu hören.«
»Das hoffe ich, Mr Gardner.«
Aber ich sah ihn nie wieder. Ein paar Monate später, im Herbst, hörte ich, dass Mr und Mrs Gardner sich hatten scheiden lassen – einer der Kellner im Florian hatte es irgendwo gelesen und erzählte es mir. Da fiel mir alles wieder ein, was an diesem Abend passiert war, und es machte mich ein bisschen traurig, als ich daran dachte. Denn Mr Gardner war mir wie ein ziemlich anständiger Mensch vorgekommen, und egal, wie Sie es betrachten, ob Comeback oder nicht, er ist und bleibt einer der ganz Großen.
Ob Regen oder Sonnenschein
W ie ich liebte Emily die alten amerikanischen Broadway-Songs. Sie war mehr für die flotteren Nummern, wie Irving Berlins »Cheek to Cheek« und Cole Porters »Begin the Beguine«, während ich eher den bittersüßen Balladen zuneigte – »Here’s That Rainy Day« oder »It Never Entered My Mind«. Aber es gab eine große Schnittmenge, und es war sowieso fast ein Wunder, wenn man damals, an einer Uni in Südengland, jemanden fand, der die gleichen Vorlieben hatte. Heute hört ein junger Mensch ja alle möglichen Musikrichtungen. Mein Neffe, der im Herbst mit seinem Studium anfängt, hat gerade seine Tangophase, argentinisch natürlich. Er mag auch Edith Piaf und alles von den neuesten Indie-Gruppen. Aber in unserer Zeit waren die Geschmäcker nicht annähernd so facettenreich. Meine Kommilitonen zerfielen in zwei große Gruppen: die Hippietypen mit langen Haaren und wallenden Gewändern, die »progressiven Rock« hörten, und die Braven, Konservativen, die alles, was nicht klassische Musik war, als grausamen Lärm empfanden. Gelegentlich traf man jemanden, der laut eigenem Bekunden auf Jazz stand, womit dann aber, wie sich herausstellte, immer Fusion gemeint
war – endlose Improvisationen ohne Respekt vor den ursprünglichen schön komponierten Songs, die ihre Ausgangsbasis waren.
Es war also eine Wohltat, jemanden kennenzulernen, der das Great American Songbook schätzte – noch dazu ein Mädchen. Wie ich sammelte Emily LPs mit feinfühligen, schnörkellosen Vokalinterpretationen der Standards – solche Platten bekam man oft günstig, weil ausrangiert von der Generation unserer Eltern, in Ramschläden. Ihre Lieblinge waren Sarah Vaughan und Chet Baker, meine Julie London und Peggy Lee. Auf Sinatra und Ella Fitzgerald waren wir beide nicht so wild.
In diesem ersten Jahr wohnte Emily auf dem Campus, und sie hatte in ihrem Zimmer ein Reisegrammofon, eine damals recht verbreitete Bauform, die aussah wie eine große Hutschachtel, mit Oberflächen aus hellblauem Kunstleder und einem einzelnen integrierten Lautsprecher. Erst wenn man den Deckel aufklappte, kam innen der Plattenteller zum Vorschein. Nach heutigem Standard erzeugte es einen ziemlich primitiven Klang, aber ich weiß noch genau, wie wir stundenlang selig davorhockten, einzelne Songs übersprangen, die Nadel vorsichtig auf den nächsten senkten. Mit Begeisterung hörten wir uns verschiedene Versionen ein und desselben Lieds an und diskutierten dann über den Text oder über die Interpretationen der Sänger. Durfte man diese spezielle Zeile wirklich so ironisch singen? Sollte »Georgia on My Mind« lieber so gesungen werden, als wäre Georgia eine Frau, oder musste klar sein, dass der amerikanische Bundesstaat gemeint war? Besonders entzückt waren wir, wenn wir eine Aufnahme auftrieben – wie Ray Charles, wenn er »Come Rain Or Come Shine« singt -, bei der die Worte an sich fröhlich sind, die Interpretation aber ganz einfach herzzerreißend.
Emilys Liebe zu dieser Musik war offensichtlich so groß, dass ich jedes Mal verdattert war, wenn ich mitbekam, wie sie mit Kommilitonen über irgendeine protzige Rockband oder einen geistlosen kalifornischen Liedermacher redete. Manchmal begann sie, über ein »Konzeptalbum« mehr oder weniger auf die gleiche Art zu
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