Bei Anbruch der Nacht
verstanden. Dass wir uns umeinander Sorgen machten, uns umeinander kümmerten. Wie gesagt, wir liebten uns. Und wir lieben uns heute noch.«
»Das verstehe ich nicht, Mr Gardner. Warum wollen Sie und Mrs Gardner sich dann trennen?«
Er stieß wieder einen seiner Seufzer aus. »Wie sollten Sie das mit Ihrer Herkunft auch verstehen, mein Freund? Aber Sie waren so nett zu mir heute Abend, ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Tatsache ist, dass ich nicht länger der große Name bin, der ich mal war. Protestieren Sie, so viel Sie wollen,
aber dort, wo wir herkommen, lässt sich so was einfach nicht leugnen. Ich bin kein großer Name mehr. Jetzt könnte ich das einfach hinnehmen und in der Versenkung verschwinden. Von vergangenem Ruhm leben. Oder ich könnte sagen, nein, ich bin noch nicht fertig. Mit anderen Worten, mein Freund, ich könnte ein Comeback machen. Das haben viele getan, die in meiner Lage und schlimmer dran waren. Aber ein Comeback ist keine leichte Sache. Sie müssen bereit sein, eine Menge zu verändern, und manches fällt sehr schwer. Sie müssen ein anderer werden. Sie müssen sich sogar von Dingen verabschieden, die Sie lieben.«
»Mr Gardner, meinen Sie damit, dass Sie und Mrs Gardner sich wegen Ihres Comebacks trennen?«
»Schauen Sie sich doch die Leute an, denen das Comeback gelungen ist. Schauen Sie sich die paar aus meiner Generation an, die heute noch da sind. Alle neu verheiratet, jeder Einzelne von ihnen. Zum zweiten, manche zum dritten Mal. Ich und Lindy, wir werden allmählich zur Lachnummer. Außerdem gibt es da diese spezielle junge Dame, auf die ich ein Auge geworfen habe, und sie hat ein Auge auf mich geworfen. Lindy weiß Bescheid. Sie weiß es länger als ich, vielleicht weiß sie es seit ihrer Zeit im Diner, als sie Megs Geschichten zuhörte. Wir haben alles durchgesprochen. Sie versteht, dass es Zeit für uns ist, getrennte Wege zu gehen.«
»Ich versteh noch immer nicht, Mr Gardner. Das Land, aus dem Sie und Mrs Gardner kommen, kann doch nicht so verschieden von allen anderen sein. Das ist doch der Grund, Mr Gardner, das ist der Grund, weshalb die Lieder, die Sie in den vielen Jahren gesungen haben, die Leute überall auf der Welt ansprechen. Auch dort, wo ich gelebt habe. Und was sagen alle diese Lieder? Dass es traurig ist, wenn zwei Menschen die
Liebe abhandenkommt und sie sich trennen müssen. Aber dass sie für immer zusammenbleiben sollten, wenn sie einander weiterhin lieben. Das sagen Ihre Lieder.«
»Ich verstehe, was Sie sagen, mein Freund. Und es mag hart für Sie klingen, ich weiß. Aber so ist es. Und hören Sie, es geht ja auch um Lindy. Es ist das Beste für sie, wenn wir es jetzt tun. Sie ist noch lange nicht alt. Sie haben sie gesehen, sie ist immer noch eine schöne Frau. Sie muss jetzt ausgehen, solange sie Zeit hat. Zeit, eine neue Liebe zu finden, eine neue Ehe einzugehen. Sie muss rauskommen, bevor es zu spät ist.«
Ich weiß nicht, was ich darauf gesagt hätte, aber dann überrumpelte er mich mit der Bemerkung: »Ihre Mutter. Ich schätze, sie ist nie rausgekommen.«
Ich dachte darüber nach, dann sagte ich leise: »Nein, Mr Gardner. Sie ist nie rausgekommen. Sie hat die Veränderungen in unserem Land nicht mehr erlebt.«
»Das ist schade. Ich bin sicher, sie war eine wunderbare Frau. Wenn es stimmt, was Sie sagen, und meine Musik sie ein bisschen glücklich gemacht hat, dann bedeutet mir das viel. Sehr schade, dass sie nicht rauskam. Ich möchte nicht, dass es meiner Lindy genauso geht. Wirklich nicht. Nicht meiner Lindy. Ich will, dass meine Lindy rauskommt.«
Die Gondel stieß sachte gegen den Kai. Vittorio rief uns leise an, streckte die Hand aus, und nach ein paar Sekunden stand Mr Gardner auf und kletterte hinaus. Als auch ich mit meiner Gitarre draußen stand – um nichts auf der Welt hätte ich Vittorio gebeten, dass er mich umsonst mitnimmt -, hatte Mr Gardner seine Brieftasche gezückt.
Vittorio schien erfreut über seinen Lohn, und mit seinen üblichen Höflichkeitsphrasen und -gesten stieg er wieder in die Gondel und ruderte durch den Kanal davon.
Wir sahen ihm nach, wie er in der Dunkelheit verschwand, und im nächsten Augenblick drückte mir Mr Gardner einen Stoß Geldscheine in die Hand. Ich sagte, das sei viel zu viel, und ohnehin sei es eine riesige Ehre für mich, aber er ließ keinen Widerspruch zu.
»Nein, nein«, sagte er und wedelte mit der Hand vor dem Gesicht herum, als wollte er nichts mehr damit zu tun haben, nicht
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