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Bei Anbruch des Tages

Bei Anbruch des Tages

Titel: Bei Anbruch des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sveva Casati Modignani
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sagte Madame Lorette.
    Voller Sehnsucht nach ihrer Mutter eilte Léonie nach Hause.
    Die Tür war von innen abgeschlossen, also klopfte sie. Da niemand antwortete, hämmerte sie dagegen und rief laut: »Nadine!«
    Die alte Thérèse öffnete ihre Tür, die direkt gegenüberlag, und sagte: »Musst du solchen Lärm machen? Ich habe geschlafen, und du hast mich geweckt.«
    Â»Aber nicht die Mama!«, erwiderte das Kind und schlug weiter auf die Tür ein.
    Â»Los, ma petite, mach kein Theater und komm zu mir!«, bat Thérèse.
    Â»Nein, zu dir will ich nicht. Ich will zu meiner Mama!«, schrie Léonie mit Tränen in den Augen.
    In diesem Moment ging die Haustür auf. Im Türspalt tauchte eine junge, verschwitzte Frau mit wirrem Haar auf, die sehr schön, aber auch sehr wütend war. Sie trug nur ein Unterkleid.
    Â»Du hast einen indiskutablen Lärm veranstaltet. Geh sofort zu Thérèse. Nachher hole ich dich!«
    Sie knallte ihrer Tochter die Tür vor der Nase zu, aber vorher erhaschte Léonie noch einen Blick auf den fast nackten Mann hinter ihrer Mutter.

2
    D as Mädchen versetzte der Tür einen wütenden Tritt und schrie: »Du bist böse!«
    Thérèse rief nach ihr, aber Léonie kreischte: »Auch du bist böse.«
    Sie lief auf die Gasse und hörte nicht auf zu rennen, bis sie das kleine Geschäft erreicht hatte, das gerade wieder aufmachte.
    Sie wandte sich an den Mann, der sie immer bediente und bei dem sie anschreiben durfte, wenn sie kein Geld hatte. Er wusste, dass die Mutter die Schulden begleichen würde.
    Â»Ich möchte ein Stück Lebkuchen, einen Riegel Schokolade und eine Tüte Honigbonbons. Die Mama zahlt!«
    Der Verkäufer, der sie von klein auf kannte, fragte: »Bist du sicher, dass die Mama das alles erlaubt hat?«
    Â»Ja!«, erwiderte das Mädchen sofort. Mit ihrem Schatz an Süßig keiten ging sie zum Marktplatz und setzte sich im Schatten der Platane auf eine Bank direkt vor dem Friseurgeschäft, in dem die Mutter arbeitete. Dort begann sie, die Leckereien zu verzehren, wobei sie sich mutterseelenallein fühlte und ihr Kopf ganz leer war.
    Bald darauf sah sie die Mutter, die eilig in den Salon Jules et Lorette zurückkehrte. Léonie betrachtete ihren stolzen Gang, die sich wiegenden Hüften, die den Rock mit roten Mohnblüten auf weißem Grund zum Schwingen brachten, und den üppigen Busen, dessen Ansatz aus der engen Puffärmelbluse hervorsah. Ihr dunkles Haar ringelte sich bis zu den Schultern hinab, und die knallrot geschminkten Lippen waren halb geöffnet und ließen ihre Zähne weiß aufblitzen. Nadine war wunderschön. Nicht umsonst war sie mit achtzehn zur Miss Provence gewählt worden, und wäre sie nicht schwanger geworden, hätte sie es sicher auch noch zur Miss France gebracht.
    Einmal hatte sie zu Léonie gesagt: »Weißt du, es gibt immer eine Möglichkeit, ein ungewolltes Kind loszuwerden. Ich habe das nicht getan. Ich habe beschlossen, dich zu behalten. Was erwartest du noch von mir?«
    Léonie hatte das Gefühl, nur eine Teilzeitmutter zu haben. Sie wünschte sich sehnlichst eine Familie. Ihren Kummer und ihr Bedürfnis nach Zärtlichkeit reagierte sie dadurch ab, dass sie häufig log und vor allem ihrer Mutter so manchen Streich spielte.
    In dem Moment entdeckte ihre Mutter sie, und anstatt gleich zum Salon zu gehen, blieb sie vor ihr stehen und musterte sie streng.
    Sie stellte einmal mehr die übliche Frage: »Was erwartest du noch von mir?«
    Da sagte Léonie zum ersten Mal: »Du holst dir Fremde in dein Bett. Aber mich nie!«
    Nadine war sechsundzwanzig, sie hatte eine Riesenangst vor dem Älterwerden und suchte nach einem Ehemann, möglichst einem mit Geld, der ihr Sicherheit und eine gewisse gesellschaftliche Stellung bot. Aber von all den Männern, mit denen sie sich abgab, wollte sie keiner heiraten.
    Die Frau warf einen Blick in den Salon: Noch warteten dort keine Kunden. Also setzte sie sich neben Léonie auf die Bank, öffnete ihre rote Basttasche, zog ein Papiertaschentuch heraus und säuberte Léonies schokoladenverschmiertes Gesicht. Sie knüllte das Taschentuch zusammen und warf es in den Abfallkorb. Dann steckte sie erneut die Hand in die Tasche, zog ein paar Münzen hervor und zeigte sie ihrer Tochter.
    Â»Vielleicht wirst du nie einen Vater haben. Aber es wird immer

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