Bei Anbruch des Tages
etwas kühlere Nachtluft herein zulassen. In der Ferne hörten sie das Stimmengewirr der Touristen, das Orchester vom Café de lâEmpéri, die Schritte der Passanten, das Miauen einer liebestollen Katze und das Gelächter junger Leute. Léonie schloss die Augen und hörte Thérèses Kleider rascheln, als sie sie auszog, um in ihr Nachthemd zu schlüpfen.
Dann streckte sich Thérèse neben ihr aus, und Léonie schlief ein.
Es war der durchdringende Duft nach Kaffee, der sie weckte. Die Fensterläden waren angelehnt, um die Morgensonne nicht hereinzulassen. Léonie kletterte aus dem Bett und zog ihre Unterhose und das etwas abgetragene blaue Hemdchen an. Barfuà hüpfte sie über den Boden in die Küche. Dort setzte sie sich an den rustikalen Tisch mit der weiÃ-roten Wachstuchtischdecke.
»Bonjour, ma petite«, sagte Thérèse.
»âjour«, erwiderte Léonie mit schlafverquollenen Augen und lächelte angesichts der Schale mit dem Milchkaffee, in dessen Duft sich der nach warmem Baguette mischte.
Während sie das Brot in die dampfende Flüssigkeit tunkte, sagte die Frau: »Deine Mutter ist schon zur Arbeit gegangen. Sie hat dir Geld fürs Mittagessen dagelassen und lässt dir ausrichten, dass sie die Küche picobello vorfinden will, wenn sie heute Abend nach Hause kommt.«
»Immer muss ich auch noch ihre Teller spülen!«, klagte das Kind.
»Nachher helfe ich dir. Aber jetzt wasch dich bitte und hilf mir, LavendelsträuÃchen für heute Abend zu binden«, bat die Frau, die bereits zwei Körbe mit Blüten auf dem Balkon stehen hatte.
DrauÃen auf der StraÃe rief Ninette nach ihrer Freundin. »Heute Abend begleite ich dich nicht auf deine Runde«, sagte sie strahlend und erklärte dann: »Pierrot holt mich ab und bringt mich nach Aix. Ich werde die ganze Woche bei der Familie verbringen.«
Léonie, die auf den Balkon getreten war, fragte: »Darf ich mitkommen, Ninette?«
Dem Kind war jeder Vorwand recht, um nicht allein schlafen zu müssen. Es lebte in ständiger Angst vor Einsamkeit und Dunkelheit, und das seit jeher.
»Ich hab dir doch von meiner Schwägerin erzählt, mon petit lapin . Es ist schon eine Sensation, dass sie mich eingeladen hat. Und ehrlich gesagt weià ich gar nicht, ob ich es überhaupt eine ganze Woche bei madame la baronne aushalten werde«, klagte die Frau.
»Na dann, viel SpaÃ!«, sagte Thérèse.
»Siehst du, alle fahren in Urlaub, nur ich nicht!«, sagte Léonie, während sie den Tisch abdeckte und ihre Schale spülte.
»Beklag dich nicht, ma petite! Der liebe Gott wirdâs schon richten. Und bis es so weit ist, hat er dafür gesorgt, dass du gesund und schlau bist, was auch nicht zu verachten ist. Solltest du es eines Tages verdient haben, belohnt zu werden, wirst du auch belohnt werden«, heiterte die freundliche alte Dame sie auf.
»Ja, abwarten und Tee trinken!«, erwiderte die Kleine, die gerade mal acht Jahre alt war, sich aber ausdrückte wie eine Erwachsene.
Langsam füllte sich die Gasse; die kleinen boutiques öffneten die Läden, und erste Touristen machten mit ihren Fotoapparaten die Runde.
Am Mittag wurde es still, und die StraÃen leerten sich. Die Geschäfte schlossen ihre Läden, sogar die Kirchenglocken schwiegen, und die alte Thérèse zog sich in ihr abgedunkeltes Schlafzimmer zurück. Léonie dagegen setzte sich vor den bemoosten Brunnen, der aussah wie ein riesiger grünlicher Pilz, und las in Der kleine Nick, einem dicken Buch aus der Schulbücherei, in dem sie sich wiedererkannte, weil es darin auch um die Inkonsequenz der Erwachsenen im Umgang mit Kindern ging.
Sie bekam Durst und gönnte sich eine Coca-Cola am Tresen des Café du Midi. Dann beschloss sie, ihre Mutter im Friseursalon zu besuchen, wo diese als Kosmetikerin arbeitete.
Der Salon hieà Chez Jules et Lorette . Er befand sich direkt am Marktplatz und hatte zwei Eingänge, einen für Männer und einen für Frauen. Noch hatte der Salon geschlossen, aber Léonie ging davon aus, dass ihre Mutter sich mit ihren Kolleginnen im Innenhof ausruhte, bevor das Geschäft am Nachmittag wieder aufmachte.
Monsieur Jules und Madame Lorette spielten mit Stanis und Linda Karten. Von Nadine fehlte jede Spur.
»Deine Mutter ist nach Hause gegangen. Sie war müde und wollte ein Nickerchen machen«,
Weitere Kostenlose Bücher