Bei Anbruch des Tages
verlieren, hielt ihn davon ab, sie zu verhören.
Sie stellte zwei dampfende Tassen mit bernsteinfarbenem Tee auf den Tisch.
»Willst du deinen Tee mit Honig trinken?«, fragte sie.
»Ja, bitte«, erwiderte Guido, nicht ohne hinzuzufügen: »Nimmst du keinen Honig?«
»Honig macht dick. Du isst regelmäÃig SüÃes und hast trotzdem eine beneidenswerte Figur. Ich würde dick wie ein Fass, wenn ich nicht ständig auf meine Ernährung achten würde.«
»Mir würde es nicht das Geringste ausmachen, wenn du dicker wärst.«
»Aber mir!«, entgegnete Léonie.
»Essen kompensiert vieles. Dass wir Cantonis vor allem emotional unsere Probleme haben, ist, denke ich, nicht zu übersehen.«
»Wolltest du darüber mit mir reden?«, fragte sie, nachdem sie kurz an ihrem Tee genippt hatte.
»Ich wollte dir sagen, dass ich mir meines Frusts bewusst bin und ihn dummerweise an dir ausgelassen habe«, antwortete er. Dann sagte er leise: »Mir ist klar geworden, dass ich mich falsch verhalten habe. Es tut mir leid, wenn ich dich sexuell bedrängt habe. Ich bitte dich aufrichtig um Entschuldigung.«
»Ãa suffit, mon pauvre ami«, sagte Léonie und strich ihm zärtlich über die Wange. »Ich habe dir bereits verziehen â auch weil ich hoffe, dass es nicht wieder passiert. Willst du mir sagen, was dich quält?«
»Ich weià es selbst nicht so genau«, log er. »Wir Männer sind manchmal feige, unsicher und erbärmlich. Und genauso fühle ich mich jetzt«, gestand Guido.
Léonie betrachtete ihren hochgewachsenen Ehemann mit den blassen, aristokratischen Zügen. Sie sah ihn mit liebevollem Bedauern an und redete sich ein, dass er wahrscheinlich durch irgendetwas an seine alte unglückliche Leidenschaft für Amaranta erinnert worden war. Nicht einmal ansatzweise vermutete sie, dass Guido über ihre Affäre mit Roger Bescheid wusste.
Noch einmal strich sie ihrem Mann zärtlich über das Gesicht.
»WeiÃt du, Guido, ich bin dir und deiner Familie sehr dankbar für eure Zuneigung. Als wir uns kennenlernten, war ich rastlos, und heute bin ich eine gelassene, glückliche Frau. Es tut mir leid, dass du Probleme hast, aber das geht bestimmt wieder vorbei. Wir sind doch eine glückliche Familie, oder etwa nicht?«
Seit sie geheiratet hatte und in der groÃen Cantoni-Villa wohnte, ging sie manchmal bis zum Teich am Ende des Parks, um dort aufs Wasser zu schauen. Auf einer steinernen Bank überlieà sie sich ganz dem Frieden dieses Ortes, der für sie die Familie Cantoni versinnbildlichte. Sie war sich sicher, dass sich unter der glatten Oberfläche des Teiches etwas in der dunklen Tiefe verbarg. Aber auf den ersten Blick wirkte das stille Wasser beruhigend, und das genügte ihr.
»Wir sind eine glückliche Familie«, bestätigte Guido lächelnd.
In der gemütlichen Wärme der groÃen Küche dachte Léonie, dass Guido und sie vielleicht kein perfektes Paar sein mochten, aber trotzdem gut zusammenpassten, weil sie durch Zuneigung, die Liebe zu ihren Kindern, Respekt voreinander und gemeinsame Zukunftspläne miteinander verbunden waren.
»Wollen wir nach den Kindern sehen?«, fragte sie leise.
Sie stiegen in den Aufzug, fuhren in den ersten Stock und gingen in Giuseppes Zimmer, der als Ãltester allein schlief.
Eine Lampe, die in einer Zimmerecke auf dem Boden stand, spendete schwaches Licht.
Gemeinsam traten sie ans Bett des Kleinen, der ganz tief schlief, den Teddy im Arm. Er hatte die gleichen schwarzen Locken wie sein Vater, einen gesunden rosigen Teint und verströmte diesen köstlichen Babyduft, der Eltern dahinschmelzen lässt.
Guido legte sanft eine Hand auf sein Köpfchen, als wollte er ihn segnen. Léonie zupfte die bunte Daunendecke zurecht. Schweigend gingen sie aus dem Raum und lieÃen die Tür angelehnt. Dann traten sie Hand in Hand in das Zimmer, in dem Gioacchino und Gioia schliefen, beide in ihren Gitterbettchen.
Gioacchino hatte sich zusammengerollt, da er die Decke weggestrampelt hatte, und fror. Er hatte den Daumen in den Mund gesteckt und lutschte manchmal daran. Léonie deckte ihn wieder richtig zu.
Gioia dagegen hatte einen Schnuller im Mund und sah sie mit groÃen Augen an. Bei ihrem Anblick strahlte sie, und der Schnuller fiel aufs Kissen.
Léonie legte den Zeigefinger auf die Lippen, während Guido ihr
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