Bei Anruf - Angst
Taschentücher-Stapel kippten
um. Hätten die versprühten Bakterien Glühwürmchen-Outfit gehabt, wäre der Raum
illuminiert gewesen.
„Gesundheit!“, riefen die Jungs. Die Psychologin nickte schwach
und hielt sich den Kopf.
„Gaby, du solltest deinen Vater
verständigen“, erklärte sie stockig. „Die Polizei muss das wissen.“
„Besorgen wir alles“, erwiderte
Tim. „Und im Übrigen werden wir jetzt was tun. Als Hilfspolizisten blicken wir
ja auf enorme Erfahrung zurück.“ Er sah zur Uhr. „Fünf vor neun, Gaby. Wann
hörst du auf?“
„In fünf Minuten.“
„Wir warten solange.“ Er
dämpfte die Stimme. „Ich weiß ungefähr, wo wir suchen müssen.“
Gaby hob die dunklen Wimpern,
um die Kornblumenaugen zu runden. „Hast du was Auffälliges im Hintergrund gehört?
Da war doch nur Musik. Kannst du damit was anfangen?“
Tim grinste. „Genau, Pfote! Ein
schmächtiger Tango. Derselbe von vorhin. Nur dass diesmal die Schwof-Trainerin
nicht reingeredet hat. Weil ihre Schüler inzwischen fortgeschritten sind.
Jedenfalls — es war eindeutig jener Blick-mir-in-die-Pupille-Schleichgang, den
wir bei der Tanzschule Hahmelbeyn gehört haben, als wir eben dort vorbeikamen.“
„Stimmt!“, rief Karl. „Nur
etwas leiser war’s. Hat das Mädchen von dort angerufen?“
Tim schüttelte den Kopf. „Dort
sind ja alles Riesengebäude und eins verschachtelt sich mit dem andern. Ich
vermute, das Mädchen ist in einer Wohnung über oder neben der Tanzschule. Falls
da wie dort ein Fenster geöffnet ist — trotz des Schlechtwetters — könnte der
Abstand auch größer sein. Zwei, drei Etagen oder bis zum Nachbarhaus. Damit
müssen wir rechnen.“
In diesem Moment rückte der
Minutenzeiger der Wanduhr auf die volle Stunde. 21.00 Uhr. Ende der
Sorgofon-Sprechstunde. Gaby nahm den Kopfhörer ab.
2. Das Geheimnis des Kräuterlikörs
Über die Tiroler Berge brauste
ein Frühjahrssturm. In höheren Lagen war die Schneedecke noch meterdick und Lawinengefahr
bestand nach wie vor. Aber unten im Tal — rund um St. Amarusetta — roch die
Luft schon nach Frühling. Schneeglöckchen bildeten weiße Felder auf feuchten
Wiesen. Mittags war die Sonne recht warm gewesen, doch jetzt am Abend sanken
die Temperaturen wieder unter Null.
Dietmar Lerchenalt hatte im
Gasthaus Felsenblick zwei Zimmer gemietet. Für sich und seinen Kumpel
Adolf Tagner. Aber Adolf war noch nicht da. Er hatte in Köln und Düsseldorf zu
tun gehabt, hatte eingeschmuggelte Flüchtlinge — vornehmlich aus dem ehemaligen
Ostblock — auf ihre Quartiere verteilt. Immerhin — er war jetzt auf dem Weg
hierher, hatte vorhin aus Innsbruck angerufen und wollte eigentlich zum
Abendessen vor Ort sein. Ein Stau auf der Autobahn verhinderte das. Dietmar
hatte also allein gegessen, saß jetzt vor seinem Bier in der Gaststube und
langweilte sich. Ein Dutzend Urlauber an den anderen Tischen langweilte sich
auch. Einziger Lichtblick: Auf dem Bildschirm der Glotze hinten in der Ecke
wurde Fußball geboten und fesselte die Aufmerksamkeit der Männer. Die Frauen,
mit denen niemand redete, bestellten noch einmal Nachtisch und langweilten sich
schlimmer als vorher.
Hoffentlich kommt er bald!,
dachte Dietmar. Er weiß ja noch nichts. Er braucht Anweisung.
Adolf Tagner wusste nur, dass
bei dem geplanten Coup — Dietmars Coup — mit etwas Glück eine Million
rausspringen würde. Euros, natürlich.
Dietmar war 23, sah aber wie 30
aus, hatte rotblondes Haar und trotz seiner 188 cm Höhe ziemlich kurze Beine. Dadurch
wirkte er plump, obwohl er nicht dick war. Laufwarze hatten sie ihn in
der Schule genannt. Viele Male hatte er sich deshalb geprügelt, aber wegen
seiner Langsamkeit fast immer verloren. Der Gegner landete mindestens drei
Hiebe, bevor Dietmar mit dem Ausholen fertig war. Geistig war er allerdings
fixer. Er hatte den Hauptschul-Abschluss geschafft und dann eine Lehre als
Hotelfachmann abgebrochen. Nein, das war nichts für ihn: arbeiten, wenn andere
feiern? Und sogar sonntags! Lächerlich! Da gibt es doch andere Möglichkeiten
zum schnellen Geld. Also geriet er auf die schiefe Bahn. Und verdiente klotzig als
Menschenschmuggler. Als Weiterverteiler in einer Schleuserbande. Außerdem
musste er ja auch für seine 14jährige Schwester aufkommen — für Olivia.
Allerdings war die ein ganz anderer Charakter. Mit ihr verstand er sich nicht,
obwohl er sie mochte.
„Noch ein Bier?“ Die
Serviererin kam an den Tisch.
„Ja, bitte! Und
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