Bei Einbruch der Nacht
Sie auch nichts angefaßt?« fragte er.
»Ihr Kollege hat mich nicht aus den Augen gelassen.«
»Und?«
»Vielleicht dasselbe Tier. Unmöglich, sicher zu sein.«
»Der große Wolf?« fragte der Gendarm und kniff in Verteidigungshaltung die Augen zusammen.
Lawrence verzog das Gesicht. Er hob die Hand und spreizte Daumen und kleinen Finger.
»Groß. Mindestens soviel zwischen Reißzahn und Eckzahn. Man kann es nicht richtig sehen. Ein Biß an der Schulter und ein Biß an der Kehle. Hat offenbar nicht die Zeit gehabt, zu reißen.«
Zwei Wagen kamen rumpelnd den Fahrweg hinauf.
»Da kommt das Labor«, sagte der Gendarm. »Und dahinter der Arzt.«
»Komm«, sagte Lawrence, legte eine Hand auf Camilles Schultern und schüttelte sie sanft. »Wir bleiben nicht da.«
»Ich würde gern mit Soliman reden«, sagte Camille. »Er ist in der Toilette eingesperrt.«
»Wenn jemand in den Toiletten eingesperrt ist, kann man nichts machen.«
»Ich geh trotzdem hin. Er ist ganz allein.«
»Ich warte beim Motorrad auf dich.«
Camille betrat das dunkle, stille Haus, stieg in den ersten Stock hinauf und blieb vor der verschlossenen Tür stehen.
»Sol«, rief sie und klopfte an das Türblatt.
»Haut ab, ihr Arschlöcher!« brüllte der junge Mann.
Camille nickte. Soliman würde die Fackel weitertragen.
»Sol, ich versuch nicht, dich da rauszuholen.«
»Hau ab!«
»Ich hab auch Kummer.«
»Dein Kummer zählt nichts! Er zählt nicht, hörst du? Du hast nicht mal das Recht, hier zu sein! Du warst nicht ihre Tochter! Hau ab! Verdammt noch mal, hau ab!«
»Natürlich zählt der nicht. Ich hab Suzanne einfach nur ein bißchen gemocht.«
»Aha! Siehst du!« brüllte Soliman.
»Ich hab ihr ihre Rohre repariert, und im Gegenzug hab ich ihr Gemüse und ihren Schnaps genommen. Und es ist mir völlig egal, wenn du hier nicht aus dem Klo rauskommst. Wir werden dir Schinken unter der Tür durchschieben!«
»Genau!« schrie der junge Mann.
»So ist die Lage, Sol. Du kommst nicht mehr aus dem Klo raus. Der Wacher kommt nicht mehr aus dem Stall raus, und Buteil kommt nicht mehr aus seiner Hütte raus. Niemand kommt mehr irgendwo raus. Die Schafe werden alle verrecken.«
»Diese verdammten Viecher sind mir so was von scheißegal! Die sind doch alle bescheuert!«
»Aber der Wacher ist alt. Er kommt nicht nur nicht mehr raus, er bewegt sich nicht mehr und redet nicht mehr. Er ist starr wie sein Stock. Laß ihn nicht fallen, sonst müssen wir ihn ins Altenheim bringen.«
»Mir doch egal!«
»Der Wacher ist so, weil er draußen war, als der Wolf angegriffen hat. Er hat ihr nicht helfen können.«
»Und ich hab geschlafen! Ich hab geschlafen!«
Camille hörte, wie Soliman in Schluchzen ausbrach.
»Suzanne hat immer gewollt, daß du viel schläfst. Du hast ihr gehorcht. Das ist nicht deine Schuld.«
»Warum hat sie mich nicht wachgerüttelt?«
»Weil sie nicht wollte, daß dir etwas zustößt. Du warst ihr Prinz.« Camille drückte ihre Hand gegen die Tür. »Das hat sie immer gesagt«, fügte sie hinzu.
Camille stieg zum Schafstall hinauf, und der mittelgroße Gendarm hielt sie im Vorbeigehen an.
»Was macht er?« fragte er.
»Er weint«, sagte sie müde. »Es ist schwierig, mit jemand zu reden, der sich im Klo eingesperrt hat.«
»Ja«, bestätigte der Gendarm, als ob er schon mit Dutzenden von Menschen gesprochen hätte, die sich im Klo eingesperrt hatten. »Die Psychologie kommt gar nicht«, sagte er, während er auf seine Uhr sah. »Was die bloß machen.«
»Was sagt der Arzt?«
»Dasselbe wie der Trapper. Daß ihr die Kehle durchgetrennt wurde. Durchgetrennt. Zwischen drei und vier Uhr morgens. Man kann den Abdruck der Zähne noch nicht gut sehen. Das muß noch gesäubert werden. Aber er sagt, daß das weich ist, nicht so, wie wenn der Abdruck in Lehm geschlagen wäre, nicht wahr?«
Camille nickte.
»Ist der Wacher noch immer da drin?«
»Ja. Wir haben Angst, daß er zur Mumie wird.«
»Sie können ja immer noch den Leuten von der Psychologie sagen, daß sie ihn sich ansehen sollen.«
Der Gendarm schüttelte aufrichtig den Kopf.
»Nicht nötig«, versicherte er. »Der Wacher ist hart wie ein Sack Nüsse. Die Psychologie würde bei ihm nicht mehr ausrichten, als wenn man gegen einen Baum pißt.«
»Na dann«, sagte Camille. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir Ihren Namen zu sagen?«
»Lemirail. Justin Lemirail.«
»Danke«, sagte Camille und setzte mit hängenden Armen ihren Weg fort.
Sie traf Lawrence
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