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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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stellte noch Schinken, Käse und Äpfel dazu und setzte sich. Camille versuchte nicht, wie sie es sonst immer tat, das Gespräch zu beginnen, so daß Lawrence schweigend aß, von Zeit zu Zeit sein Haar schüttelte und sie vage erstaunt ansah. Camille fragte sich, was wohl aus ihnen werden würde, wenn sie nicht die Initiative ergriff und anfing zu reden. Vielleicht würden sie vierzig Jahre an diesem Tisch sitzen bleiben und schweigend Tomaten essen, bis einer von ihnen stürbe. Vielleicht. Diese Aussicht schien Lawrence nicht zu stören. Camille gab nach zwanzig Minuten nach.
    »Hast du ihn gesehen?«
    »Ist verschwunden.«
    »Warum ›verschwunden‹? Der Mann hat das Recht, einen kleinen Ausflug zu machen.«
    »Ja.«
    »War der Hund da?«
    »Nein.«
    »Siehst du. Er macht einen Ausflug. Außerdem ist Sonntag.«
    Lawrence hob das Kinn.
    »Es heißt, er geht jeden Sonntag zur Sieben-Uhr-Messe in ein anderes Dorf«, sagte Camille.
    »Wär schon zurück. Ich bin zwei Stunden lang die gesamte Umgebung seiner Baracke abgelaufen. Hab ihn nicht gesehen.«
    »Das Gebirge ist groß.«
    »Bin noch mal nach Les Écarts. Soliman ist aus der Toilette rausgekommen.«
    »Die Psychologin?«
    Lawrence nickte.
    »Es geht ihm nicht gut«, sagte er. »Der Arzt hat ihm Beruhigungsmittel gegeben. Er schläft.«
    »Und der Wacher?«
    »Scheint so, als hätte er sich vom Fleck gerührt.«
    »Gut.«
    »Einen Meter.«
    Camille seufzte, riß sich ein Stück Brot ab und kaute zerstreut darauf herum.
    »Wie findest du den Wacher?« fragte sie.
    »Nervt mich.«
    »Aha. Ich finde ihn eher beeindruckend.«
    »Beeindruckende Typen sind immer nervig.«
    »Das ist möglich«, gab Camille zu.
    »Werd heut abend zur Essenszeit noch mal zu Massart fahren. Kann ihn nicht verfehlen.«
    Aber Lawrence fand Massart auch am Abend nicht in seiner Hütte. Er wartete mehr als anderthalb Stunden auf ihn, an seine Tür gelehnt, und beobachtete, wie die Nacht über das Gebirge hereinbrach. Lawrence konnte warten wie kein anderer. Es war schon vorgekommen, daß er sich mehr als zwanzig Stunden auf dem Pfad eines Bären versteckt hatte. Als es vollständig dunkel war, schlug er wieder den Weg zum Dorf ein.
    »Mach mir Sorgen«, sagte er zu Camille.
    »Reg dich nicht wegen diesem Typen auf. Niemand kennt seine Gewohnheiten. Es ist heiß. Vielleicht verbringt er seine freien Tage im Gebirge.«
    Lawrence verzog das Gesicht.
    »Morgen arbeitet er. Müßte zurück sein.«
    »Reg dich nicht wegen diesem Typen auf.«
    »Drei Möglichkeiten«, sagte Lawrence und streckte drei Finger hoch. »Massart ist so unschuldig wie das Schaf. Er ist ins Gebirge gegangen und hat sich verirrt. Er schläft dort, an einen Baumstumpf gelehnt. Oder er ist mit dem Fuß in eine Falle geraten. Oder er ist in eine kleine Schlucht gefallen. Sogar die Wölfe fallen in Schluchten. Oder aber...«
    Lawrence verfiel in ein langes Schweigen. Camille rüttelte ihn leicht am Knie, so wie man an einer Lampe rüttelt, um den elektrischen Kontakt wiederherzustellen. Es funktionierte.
    »Oder aber Massart ist immer noch unschuldig. Aber Suzanne hat ihn aufgesucht, um mit ihm zu reden. Heute morgen erfährt er von ihrem Tod. Er bekommt Angst. Wenn das ganze Dorf über ihn herfällt? Wenn die Dicke mit anderen geredet hat? Er hat Angst, daß man ihm den Wanst von der Kehle bis zu den Eiern aufschlitzt. Und er flieht mit seinem Hund.«
    »Das glaube ich nicht«, erwiderte Camille.
    »Oder aber Massart ist ein Mörder. Er hat mit seiner Dogge die Schafe getötet. Dann hat er Suzanne getötet. Aber Suzanne hat womöglich mit anderen geredet - zum Beispiel mit mir. Also haut er ab. Er macht sich davon. Er ist verrückt, er ist blutdürstig, und er mordet mit den Fangzähnen seines Ungeheuers.«
    »Das glaube ich genausowenig. Das Ganze nur, weil dieser arme Kerl nicht behaart ist. Das Ganze nur, weil er häßlich und allein ist. Es reicht ja schon, daß er sich da oben nicht gerade amüsieren wird, allem und ohne ein Haar.«
    »Nein«, unterbrach Lawrence sie. »Das Ganze, weil die Dicke Grips hatte und weil die Dicke einen Wolf nicht in die Enge getrieben hätte. Das Ganze auch deshalb, weil Massart verschwunden ist. Ich fahr morgen in aller Frühe noch mal hin. Bevor er nach Digne aufbricht.«
    »Ich bitte dich. Laß den Typen in Frieden.«
    Lawrence nahm Camilles Hand in seine.
    »Du bist immer für alle«, sagte er lächelnd.
    »Ja.«
    »Die Welt ist nicht so.«
    »Doch. Nein. Ist mir egal. Laß Massart. Er

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