Bei Einbruch der Nacht
gekommen?« fragte er und sah auf das leere Einmachglas, das Camille in der Hand hielt.
»Auch«, erwiderte Camille.
»Das ist heute nicht der Tag. Das ist nicht der Tag.«
Camille fragte sich, warum der Gendarm alles zweimal sagte. Es mußte viel Zeit beanspruchen, alles doppelt zu sagen, in Null Komma nichts war der halbe Tag weg. Lawrence dagegen, der nur ein Drittel aller Sätze über die Lippen brachte, sparte enorm viel Zeit. Wenn er sie nicht verlor, das war Ansichtssache, darüber konnte man diskutieren Camilles Mutter sagte immer, verlorene Zeit sei gewonnene Zeit.
Sie wandte den Blick zum Schafstall, aber an diesem Morgen standen weder Soliman noch der Wacher vor der Tür. Lawrence war schon vorausgegangen. Als sie den Schafstall betrat, drehte er sich zu ihr herum, in der Dunkelheit weiß wie ein Leintuch, und breitete beide Arme aus, um sie am Weitergehen zu hindern.
»Geh nicht weiter, Camille«, keuchte er. »Es ist kein Schaf. Jesus Christ.«
Aber Camille hatte bereits gesehen. Suzanne lag ausgestreckt und mit ausgebreiteten Armen auf dem kotigen Stroh, das Nachthemd bis zu den Knien hochgerutscht, in einer großen Blutlache, die von einer entsetzlichen Wunde an ihrer Kehle stammte. Camille schloß die Augen und lief hinaus. Sie rannte dem mittelgroßen Gendarmen in die Arme, der sie festhielt.
»Was ist passiert?« brüllte sie.
»Der Wolf«, sagte der Gendarm. »Der Wolf.«
Er hielt sie am Arm und führte sie bis zum Kombi, wo er sie auf den Vordersitz setzte.
»Ich bin auch traurig«, sagte der Gendarm. »Aber das darf man nicht sagen. Das ist gegen die Vorschrift.«
»Suzanne scheißt auf eure Vorschrift!« rief Camille.
»Ich weiß, meine Kleine, ich weiß.«
Er zog eine Flasche aus dem Handschuhfach des Wagens und hielt sie ihr ungeschickt hin.
»Ich will keinen Schnaps«, sagte Camille schluchzend. »Ich will Rosinen. Ich bin wegen der Rosinen gekommen.«
»Na, führen Sie sich nicht auf wie ein Kind, führen Sie sich nicht auf wie ein Kind.«
»Suzanne«, schluchzte Camille. »Meine dicke Suzanne.«
»Sie hat das Tier wohl gehört«, sagte der Gendarm. »Sie ist wohl hinaufgegangen, um nach dem Lärm im Stall zu sehen. Neben ihr liegt das Gewehr. Sie hat es wohl in die Enge getrieben, und das Tier hat sie angesprungen. Angesprungen. Suzanne war zu unerschrocken.«
»Und der Wacher?« schimpfte Camille. »Was hat der gemacht?«
»Führen Sie sich nicht auf wie ein Kind«, wiederholte der Gendarm. »Der Wacher war weg. Ihm fehlte ein Tier, ein Junges von diesem Jahr. Er hat es die halbe Nacht lang gesucht, und als er zu weit weg war, um zurückzukommen, hat er auf einer Weide geschlafen. Er ist um sieben zurückgekommen und hat uns angerufen. Passen Sie auf, meine Kleine.«
»Warum aufpassen?« fragte Camille und hob das Gesicht.
»Man darf den Wacher in seinem Schmerz nicht beschimpfen. Man darf nicht sagen ›Und der Wacher? Und der Wacher? Was hat der gemacht?‹ oder ähnliche Dummheiten. Sie sind nicht aus der Gegend, also sagen Sie nichts, sagen Sie nichts, ohne vorher gründlich nachzudenken. Suzanne war seine Madonna, nicht weniger. Also, keine Dummheiten. Bloß keine Dummheiten.«
Beeindruckt nickte Camille und wischte ihre Tränen mit dem Ärmel ab. Der mittelgroße Gendarm hielt ihr ein Papiertaschentuch hin.
»Wo ist er?« fragte sie.
»In einer Ecke des Schafstalls. Er wacht.«
»Und Soliman?«
Der Gendarm schüttelte mit einer Geste der Ohnmacht den Kopf.
»Er hat sich in der Toilette eingeschlossen. In der Toilette. Er sagt, er würde da krepieren. Man wird uns eine Kollegin von der Psychologie schicken. Das ist nützlich in solchen Fällen.«
»Hat er eine Waffe?«
»Nein, keine Waffe.«
»Ich habe letzten Mittwoch das tropfende Rohr repariert«, sagte Camille niedergeschlagen.
»Ja. Das tropfende Rohr. Wissen Sie, wie Suzanne den kleinen Soliman Melchior adoptiert hat?«
»Ja. Man hat mir die Geschichte schon mal erzählt.« per Gendarm schüttelte mit verständnisvollem Blick den Kopf.
»Der Kleine wollte niemanden anderes als Suzanne. Er hat seinen kleinen Kopf da hingelegt und aufgehört zu plärren. So heißt es. Ich war nicht da. Ich bin nicht von hier. Wir Gendarmen haben nie das Recht, ›von hier‹ zu sein, damit wir mit der Gegend nicht verwachsen.«
»Ich weiß«, sagte Camille.
»Aber wir verwachsen trotzdem. Suzanne hat niemand...«
Der Gendarm hielt inne, als er Lawrence zurückkommen sah, düster und mit gesenktem Kopf.
»Haben
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