Bei Einbruch der Nacht
hat nichts getan.«
»Du weißt überhaupt nichts, Camille.«
»Glaubst du nicht, es wäre besser, Crassus zu suchen?«
»Ganz genau. Vielleicht hat er Crassus.«
»Was willst du damit sagen? Daß er ihn umgebracht hat?«
»Nein. Gezähmt.«
»Warum sagst du das?«
»Seit fast zwei Jahren hat niemand mehr Crassus gesehen. Muß irgendwo sein. Er war noch ein Welpe, als sie ihn aus den Augen verloren haben. Zähmbar. Zähmbar von einem, der keine Angst vor deutschen Doggen hat.«
»Und wo soll er ihn versteckt haben?«
»In der Holzbaracke, wo er den Hund hat. Niemand kommt in Massarts Nähe und noch weniger in die Nähe der Hundehütte. Keinerlei Gefahr, entdeckt zu werden.«
»Und wie soll er ihn ernährt haben? So ein Wolf frißt eine ganze Menge. Das fällt auf.«
»Sein Hund frißt schon für zehn. Vergiß nicht: Massart erledigt seine Einkäufe in Digne. Fast anonym. Er kann auch jagen. Und er arbeitet im Schlachthof. Kann Crassus aufgezogen haben, ohne irgendein Risiko einzugehen.«
»Und wozu ein Wolf?«
»Wozu eine Dogge? Als Machtmittel, als Rachewerkzeug. Und um sich von allen anderen zu unterscheiden. Hab einen Verrückten gekannt, der ein Grizzlyweibchen aufgezogen hat. Dieser Typ hielt sich für den Herrn der Welt. Ein eigener Grizzly verleiht Energie. Das berauscht.«
»Ein Wolf auch?«
»Auch. Vor allem, wenn er Crassus ähnelt. Vielleicht tötet er mit ihm.«
Camille sann über die drei Theorien von Lawrence nach.
Die von Crassus, der auf Befehl Massarts nachts angriff, jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
»Nein«, sagte sie. »Massart steckt in einer Falle. Es gibt Leute, die stellen überall im Gebirge welche auf.«
»Möglich, daß du recht hast«, sagte Lawrence plötzlich und schüttelte sein Haar. »Die Dicke hat mich neulich abend vielleicht verrückt gemacht. Es ist anzunehmen, daß sie außer sich war und den Wolf in die Enge getrieben hat. Und daß der Wolf sie angefallen hat. Und Massart ist im Gebirge. Aber da bleibt eine Frage: Wo ist Crassus der Kahle?«
11
An diesem Sonntag, dem 21. Juni, goß es in Paris wie aus Kübeln. Das ging bereits seit dem Morgen so. Jean-Baptiste Adamsberg stand vor dem Fenster seines Schlafzimmers im fünften Stock eines baufälligen Wohnhauses im Marais, dessen Fassade sich gefährlich zur Straße neigte, und beobachtete, wie das Wasser die Rinnsteine hinunterstürzte und Abfälle mit sich riß. Manche widersetzten sich hartnäckig, während andere sich ohne Gegenwehr mitspülen ließen. Das Leben ist ungerecht, selbst in der unbekannten Welt der Abfälle. Manche halten stand, manche nicht.
Er hielt jetzt fünf Wochen stand. Nicht das Wasser wollte ihn mitreißen, sondern drei Frauen hatten es auf ihn abgesehen. Vor allem eine, eine lange, dürre Rothaarige von kaum fünfundzwanzig Jahren, die fixte, aber nicht immer, und die von zwei Sklavinnen eskortiert wurde, zwei hypnotisierten zwanzigjährigen Mädchen, die ihr wie zwei jämmerliche magere, entschlossene Schatten gehorchten. Nur die Rothaarige war wirklich gefährlich. Vor zehn Tagen hatte sie auf offener Straße auf ihn geschossen, zwei Zentimeter über die linke Schulter. Eines Tages würde sie ihm eine hübsche kleine Kugel in den Wanst jagen. Das war die fixe Idee dieses Mädchens. Sie hatte ihm das mehrfach mit einer dumpfen, wütenden Stimme am Telefon angekündigt. Eine hübsche kleine Kugel in den Wanst, genau wie die, die er vor sechs Wochen in den Bauch ihres Chefs gejagt hatte, des Kerls, der Dick D. genannt wurde, aber schlicht Jéròme Lantin hieß.
Unter diesem gebieterischeren Namen hatte Dick D. eine kümmerliche und unterwürfige Truppe unter seinen Befehl gestellt, ein paar Typen und Mädels, die sich kaum auf den Beinen halten konnten und ihm vorgeblich als Leibwächter dienten. Dick war ein ziemlich gefährlicher Rohling, ein Dealer mit radikalen Methoden, der imstande war, einen Mann mit bloßen Händen zu bezwingen, ein fetter und kompakter Bursche, intelligent genug, um sein Geschäft zu führen, aber nicht intelligent genug, um wahrzunehmen, daß auch die anderen existierten. Er zwängte seine Handgelenke in Stachelarmbänder und seine Schenkel in Lederhosen. Vermutlich stand »D.« für Diktator, Der Göttliche oder Dämon. Durch irgendeinen ziemlich häßlichen Ratschluß des Schicksals hatte sich ihm das rothaarige Mädchen voll und ganz unterworfen. Er war ihr Zwischenhändler, ihr Typ, ihr Gott, ihr Peiniger und ihr Beschützer. Ihn hatte
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