Bei Einbruch der Nacht
Camille, wenn ich dir sage, daß das ein gewaltiges Tier ist, ein Tier, wie ich noch nie eines gesehen habe.«
»Ich glaube dir«, erwiderte Camille leise.
»Und bald werde ich nicht mehr der einzige sein, der das weiß. Die Kerle hier sind nicht blind, sie wissen sogar 'ne ganze Menge, was immer die Dicke auch sagen mag. Bald werden sie es wissen. Sie werden wissen, daß sie es mit etwas Außergewöhnlichem zu tun haben, mit etwas, das sie noch nie gesehen haben. Begreifst du, Camille? Begreifst du die Gefahr? Etwas, das nicht normal ist. Dann werden sie Angst kriegen. Dann sind sie verloren. Dann werden sie ihre Götzenbilder küssen und die Außenseiter verbrennen. Und wenn die dicke Suzanne ihr Gerücht verbreitet, dann werden sie sich auf Massart stürzen und ihm den Wanst von der Kehle bis zu den Eiern aufschlitzen.«
Camille wiegte angespannt den Kopf hin und her. Niemals hatte Lawrence soviel auf einmal geredet. Er ließ sie nicht los, wie um sie zu beschützen. Camille spürte seine heißen Hände in ihrem Rücken.
»Deshalb muß man dieses Tier unbedingt finden, tot oder lebendig. Tot, wenn sie es finden, lebendig, wenn ich es finde. Bis dahin halten wir das Maul.«
»Und Suzanne?«
»Wir gehen morgen zu ihr, um ihr zu befehlen, das Maul zu halten.«
»Sie mag keine Befehle.«
»Aber sie mag mich.«
»Vielleicht hat sie noch mit jemand anderem außer dir darüber geredet.«
»Glaube ich nicht. Wirklich nicht.«
»Warum?«
»Weil sie der Ansicht ist, daß alle in Saint-Victor verdammte Arschlöcher sind. Außer mir, weil ich Ausländer bin. Sie hat auch deshalb mit mir geredet, weil ich die Wölfe kenne.«
»Warum hast du mir das nicht schon Mittwoch abend erzählt, als wir von Les Écarts zurückkamen?«
»Ich dachte, daß sie das Tier bei der Treibjagd aufscheuchen und alles in Vergessenheit geraten würde. Ich wollte den Ruf der Dicken bei dir nicht unnötig beschädigen.«
Camille wiegte wieder den Kopf.
»Deine Suzanne ist bescheuert«, murmelte Lawrence.
»Ich mag sie trotzdem.«
»Ich weiß.«
9
Am nächsten Morgen startete Lawrence um halb acht das Motorrad. Camille, die noch ganz verschlafen war, setzte sich hinter ihn, und sie fuhren langsam die zwei Kilometer, die sie von Les Écarts trennten. Camille hielt sich mit einer Hand an Lawrences Bauch fest, mit der anderen umklammerte sie das leere Rosinenglas. Suzanne Rosselin lieferte keine Rosinen, wenn man ihr nicht ihr Glas zurückbrachte, so war das Gesetz.
Lawrence fuhr nach links und bog in den steinigen Weg ein, der zu dem Gebäude führte.
»Die Bullen!« rief Camille und packte Lawrence an der Schulter.
Lawrence deutete an, daß er verstanden habe, stellte den Motor aus und stieg ab. Sie nahmen beide den Helm ab und blickten zu dem blauen Kombi hinüber, der wie ein paar Tage zuvor vor dem Schafstall stand, und zu denselben Gendarmen, dem Kleinen und dem Mittelgroßen, die zwischen Wagen und Gebäude hin und her gingen.
»God«, sagte Lawrence.
»Scheiße«, sagte Camille. »Wieder ein Angriff.«
»Bullshit. Das wird die Dicke nicht gerade beruhigen.«
»Suzanne.«
»Suzanne.«
»Es wäre besser gewesen, das wäre woanders passiert.«
»Das entscheidet der Wolf«, erwiderte Lawrence. »Nicht der Zufall.«
»Er entscheidet?«
»Sicher. Tastet sich erst vor und findet dann. Leichter Zugang, freistehender Schafstall, angeleinte Hunde. Dann kommt er wieder. Und wieder. Wenn er Gewohnheiten entwickelt, hilft das, ihn zu erwischen.«
Lawrence legte die Helme und die Handschuhe auf das Motorrad.
»Gehen wir«, sagte er. »Die Wunden überprüfen. Wenn es dieselben sind.«
Lawrence schüttelte seine langen blonden Haare wie ein erwachendes Tier, was er bei Schwierigkeiten häufig machte. Camille steckte ihre Fäuste in die Hosentaschen. Der Weg roch nach Thymian und Basilikum, und nach Blut, dachte Camille. Lawrence fand, es rieche vor allem und noch immer nach Wollschweiß und vergorener Pisse.
Sie drückten dem mittelgroßen Gendarmen, der verstört und überfordert wirkte, die Hand.
»Können wir die Wunden ansehen?« fragte Lawrence.
Der Gendarm zuckte mit den Schultern.
»Es darf nichts angefaßt werden«, sagte er mechanisch. »Es darf nichts angefaßt werden.«
Gleichzeitig gab er ihnen mit einer müden Hand ein Zeichen, daß sie hineingehen könnten.
»Vorsicht, es ist häßlich«, sagte er. »Es ist häßlich.«
»Natürlich ist es häßlich«, erwiderte Lawrence.
»Sind Sie wegen der Rosinen
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