Bei Einbruch der Nacht
dieser gute alte Kosmetikvertreter um zwei Uhr morgens rausgegangen sein soll, um frische Luft zu schnappen. Kennst du viele Leute, die nachts Spazierengehen? Der Mensch mag die Nacht nicht. Weißt du, wie viele nächtliche Spaziergänger ich in meinem ganzen Leben kennengelernt habe? Zwei.«
»Wer?«
»Mich und einen Kerl aus meinem Dorf, in den Pyrenäen. Er heißt Raymond.«
»Und weiter?« fragte der Wacher und wischte Raymond mit einer Handbewegung beiseite.
»Weiter: Es gibt keinerlei Verbindung zu Deguy und Sernot, auch keinen Grund, warum er Massart begegnet sein soll. Aber etwas ist anders bei diesem Hellouin«, fügte Adamsberg nachdenklich hinzu.
Der Wacher drehte drei Zigaretten auf den Knien. Er leckte das Papier an, klebte es zusammen und streckte die Zigaretten Soliman und Camille hin.
»Es gibt mindestens eine Person, die einen guten Grund gehabt hätte, ihn umzubringen«, fuhr Adamsberg fort. »Das kommt im Leben eines Menschen nicht so oft vor.«
»Hat das irgendeinen Zusammenhang mit Massart?« fragte Soliman.
»Das ist eine alte Geschichte«, sagte Adamsberg, ohne auf Solimans Frage einzugehen. »Eine so gewöhnliche wie schmutzige Geschichte, die mich interessiert. Sie ist vor fünfundzwanzig Jahren in den Vereinigten Staaten passiert.«
»Da hat Massart nie auch nur einen Fuß hingesetzt«, bemerkte der Wacher.
»Es interessiert mich trotzdem«, sagte Adamsberg.
Er kramte mit der linken Hand in seiner Tasche und holte zwei Tabletten heraus, die er mit einem Schluck Wein hinunterspülte.
»Das ist für meinen Arm«, erklärte er.
»Zieht's?« fragte der Wacher.
»Es sticht.«
»Kennst du die Geschichte von dem Mann, der dem Löwen seinen Arm geliehen hatte?« fragte Soliman. »Der Löwe fand das praktisch und originell und wollte ihn nicht mehr zurückgeben, und der Mann wußte sich keinen anderen Rat mehr, als sich etwas auszudenken, um sein Eigentum zurückzuerlangen.«
»Es reicht, Sol«, unterbrach ihn der Wacher. »Erzähl diese alte Geschichte aus Amerika, Junge«, bat er Adamsberg.
»Nun fand sich aber eines Tages, als der Mann mit einem einzigen Arm am Tümpel Wasser schöpfte, ein Fisch ohne Flossen in seinem Wassereimer«, fuhr Soliman fort. »›Laß mich gehen‹, bat der Fisch...«
»Verdammt noch mal, Sol«, rief der Wacher. »Erzähl diese Sache mit Amerika«, sagte er und wandte sich erneut Adamsberg zu.
»Zu Anfang gab es zwei Brüder, Paul und Simon Hellouin«, begann Adamsberg. »Sie haben zusammen für diese kleine Kosmetikfirma gearbeitet, und Simon hatte in Austin, in Texas, eine Niederlassung aufgemacht.«
»Ziemlich langweilig, diese Geschichte«, bemerkte Soliman.
»Dort hatte Simon sich das Leben schwer gemacht, indem er mit einer Frau geschlafen hat, einer Französin, die mit einem Amerikaner verheiratet war. Sie hieß Ariane Germant, verheiratete Padwell«, fuhr Adamsberg fort. »Könnt ihr mir folgen? Denn häufig schläfere ich die Leute ein, wenn ich rede.«
»Das liegt daran, daß du zu langsam redest«, sagte der Wacher.
»Ja«, erwiderte Adamsberg. »Ihr Mann, das heißt der Amerikaner, John Neil Padwell, hat sich das Leben schwer gemacht, indem er vor Eifersucht schier verrückt wurde und schließlich den Liebhaber seiner Frau gefoltert und umgebracht hat.«
»Simon Hellouin«, faßte der Wacher zusammen.
»Ja. Padwell ist vor Gericht gestellt worden. Der Bruder, Paul - unserer -, hat im Prozeß ausgesagt und Padwell schwer belastet. Er hat der Anklageschrift die Briefe seines Bruders beigefügt, in denen Simon die Brutalität und Grausamkeit von Padwell gegenüber seiner Frau beschrieb. John Neil Padwell wurden zwanzig Jahre Knast aufgebrummt, von denen er achtzehn abgesessen hat. Ohne die Aussage von Paul wäre er mit sehr viel weniger davongekommen, weil man auf Unzurechnungsfähigkeit im Augenblick der Tat plädiert hätte.«
»Keinerlei Zusammenhang mit Massart«, bemerkte Soliman.
»Nicht mehr als deine Löwengeschichte«, erwiderte Adamsberg. »Padwell muß vor ungefähr sieben Jahren aus dem Knast gekommen sein. Wenn der Kerl irgend jemanden zu erledigen hatte, dann Paul Hellouin. Nach dem Prozeß hat Ariane alles aufgegeben und ist mit dem Bruder, Paul, dessen Geliebte sie ein oder zwei Jahre lang gewesen ist, nach Frankreich zurückgekommen. Doppelte Kränkung also. Erst hat er gegen ihn ausgesagt, dann hat er ihm auch noch die Frau weggenommen. Die Geschichte habe ich von der Schwester von Paul Hellouin.«
»Aber was nutzt
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