Bei Hitze ist es wenigstens nicht kalt - Roman
Katja hatte beschlossen, wenigstens eine kleine Runde zu joggen, und Anke überlegte, ob sie in der verbleibenden Zeit vor dem Abendessen spazieren gehen oder schlafen sollte. Sie entschied sich für die frische Luft und nahm noch einmal Kurs auf den Strand.
Diesmal ging sie in die andere Richtung, so hatte sie die Spätnachmittagssonne im Gesicht. Eine Sonnenbrille wäre nicht schlecht, sie besaß aber überhaupt keine, so oft lief sie sonst nicht gegen ein solches Licht. Katja hatte beim gemeinsamen Spaziergang vorhin natürlich eine auf. Ein Designermodell mit großen Gläsern, das ihr perfekt stand, auch wenn es die meiste Zeit nur die Haare im Zaum hielt. Aber immerhin.
Anke musste lächeln. Wenn sie Katja Severin heute kennenlernen würde, wäre ihre schnelle Einschätzung brutal: schöne Hülle, nicht sehr souverän, geltungsbewusst, extrovertiert, oberflächlich. Aber würde sie auch das andere an Katja sehen: Charme, Witz, Gradlinigkeit und den unbedingten Willen, das Leben schön zu finden? Und die Fähigkeit, andere mitzureißen? Wenn Katja sich etwas vornahm, setzte sie es scheinbar einfach durch, das hatte Anke schon früher beeindruckt. Und Katja hatte wohl auch alles geschafft, was sie wollte, zumindest die Dinge, von denen Anke wusste. Bis auf die Geschichte mit Hermann natürlich. |200| Ansonsten hatte sie zielstrebig ihre Karriere beim Fernsehen begonnen und durchgezogen. Katja Severin war eben ein Glückskind, aber eines, das auch was konnte. Nur Talent, wie Anke es hatte, reichte nicht, das hatte sie in den letzten Jahren begriffen. Und das mit dem Glück hatte bei ihr noch nie geklappt.
Sie blieb kurz stehen, um sich die Nase zu putzen und ihr Selbstmitleid niederzuringen. Dem hatte sie sich zuletzt zu häufig hingegeben, das wollte sie nicht mehr. Es machte sie so klein. Katja hingegen traute sich alles zu und deshalb gelang ihr auch das meiste. Sie ließ überhaupt keinen Zweifel daran, dass ihr Leben noch nicht durchgeplant war, dass hier noch tausend Dinge passieren konnten, wenn sie nur wollte. Vielleicht war es tatsächlich so einfach.
Langsam ging Anke weiter. Sie würde nie so werden, so locker und so selbstbewusst. Aber vielleicht könnte sie sich ja wenigstens ein bisschen was abgucken. Sie müsste doch nicht diese Tristesse weiterleben, gerade jetzt mit den blonden Haaren. Das war doch schon ein Anfang. Wenn auch nur ein gefühlter.
Damit war Anke in Gedanken bei jemandem angelangt, den sie eigentlich verdrängen wollte: bei Georg. Das Grau gefalle ihm, hatte er gesagt, und sie hatte nicht besonders freundlich auf dieses Kompliment reagiert. Aber sie konnte mit solchen Dingen auch nicht umgehen. Es war Jahre her, dass sie einen Flirt, geschweige denn eine richtige Verabredung gehabt hatte. Nach dem Chaos mit Kai hatte sie sich vorgenommen, keine neue Beziehung anzufangen, bevor sie nicht die Schulden abbezahlt haben würde. Nach ihrer Berechnung würde das schätzungsweise an ihrem 86. Geburtstag sein. Dann könnte sie ihre männlichen Mitbewohner im |201| Seniorenheim mit ganz neuen Augen betrachten – auf den letzten Metern. Wenn das keine Perspektive war.
Auf der anderen Seite hatte sie aber in den letzten Jahren kaum interessante Männer kennengelernt. Zumindest keine, die nicht verheiratet oder schwul waren.
Und jetzt dieser Georg. Der mit seiner Schwester hier war, was hoffentlich stimmte. Wahrscheinlich aber hatte er irgendeine Macke, sonst würde so ein Mann doch nicht mit seiner Schwester das Wochenende in einem Wellnesshotel verbringen.
Ankes innere Stimme, die plötzlich wie die von Katja klang, pfiff sie zurück. ›Steigere dich nicht schon wieder in etwas hinein. Ihr geht zusammen in das Lokal, warte doch einfach entspannt ab.‹
Entspannt war Anke nicht, abwarten war sie gewöhnt. Mit einem Blick auf die Uhr drehte sie um und machte sich auf den Rückweg.
Doris lackierte sich in ihrem Zimmer gerade die Fingernägel, als das Telefon läutete. Mit einer Hand wedelnd stand sie auf und ging zum Apparat, vielleicht brauchte Anke Beistand bei der Auswahl der Garderobe. Lächelnd nahm sie das Gespräch an: »Na, was gibt’s?«
»Frau Goldstein-Wagner?«
»Ja?«
»Hier spricht Jessica von der Rezeption, ich habe ein Gespräch für Sie. Darf ich durchstellen?«
»Äh, ja, wer ist denn …?«
»Mama?«
Jessica hatte schon durchgestellt. Doris hörte die Stimme und ließ sich aufs Bett sinken.
|202| »Moritz. Was ist los?« Ihre Stimme zitterte sofort.
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