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Bei Tag und bei Nacht

Bei Tag und bei Nacht

Titel: Bei Tag und bei Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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arbeiten. Anschließend würde sie heimfahren.
    Ein Lastwagen ratterte vorüber. Es mochte das dritte Fahrzeug an diesem Nachmittag sein. Gennie ließ ihn passieren und überquerte die Straße. Das hohe Gras auf dem Friedhof bog sich im Wind. Von Ferne war das Geschrei der Möwen zu hören, die auf dem Weg zum Wasser waren. Sonst lag tiefe Stille über den Gräbern. An dem hohen Zaun blätterte die Farbe ab, und wilder Efeu wucherte zwischen den Mauerritzen.
    Die Kirche selbst war klein und weiß getüncht, mit einem einzigen bunten Glasfenster oben am Giebel. Die anderen Fenster hatten normales, viereckiges Glas. Die Eingangstür wirkte stabil, wenn auch verwittert. Gennie ging zu einer Stelle, wo kürzlich das Gras gemäht worden war – sie konnte es noch riechen –, und setzte sich. Flüchtig kam ihr der Gedanke, wieso ein einziges Fleckchen auf der Landkarte so viele malenswerte Motive haben konnte. Auch in sechs Monaten fleißiger Arbeit wäre sie nicht in der Lage, alles einzufangen.
    Die Ruhelosigkeit verging, als der Stift über das Papier flog. Wenn sie auch nicht jedes Motiv in Öl oder Wasserfarben vor der Abreise übertragen würde, so könnte sie doch immer wieder auf ihre Skizzen zurückgreifen. Vielleicht ergäbe sich dadurch die Notwendigkeit und die Lust, wieder herzukommen.
    Gennie war ganz in ihre Arbeit vertieft, als ein Schatten auf das weiße Blatt fiel. Die Beschleunigung ihres Pulsschlags und eine Welle aufsteigender Hitze zeigten deutlich, wer hinter ihr stand. Sie hob schützend die Hand gegen die grellen Sonnenstrahlen und schaute zu Grant auf. »Na«, sagte sie dann leichthin, »das zweite Mal an einem Tag.«
    »Der Ort ist klein.« Grant deutete auf die Skizze. »Demnach sind Sie beim Leuchtturm fertig.«
    »Nein, aber das Licht ist zu dieser Tageszeit nicht günstig dort. Nicht so, wie ich es brauche.«
    Eigentlich hätte er über diese Antwort ärgerlich sein sollen und nicht erleichtert. Lässig ließ er sich neben Gennie ins Gras nieder. »So, Sie wollen also Windy Point unsterblich machen.«
    »Auf meine bescheidene Weise – ja.« Sie malte weiter. War sie froh, dass er gekommen war? »Spielen Sie noch immer mit Ihren Briefmarken?«
    »Nein, ich habe mit klassischer Musik angefangen.« Als Gennie ihm den Kopf zuwandte, lächelte er. »Sie sind damit wahrscheinlich aufgewachsen: ein kleiner Brahms nach dem Essen.«
    »Ich bevorzuge Chopin.« Gennie klopfte unbewusst mit dem Stift gegen ihr Kinn. »Was haben Sie mit Ihrer Post gemacht?«
    »Weggepackt.«
    »Ihren Kombi habe ich nicht gesehen.«
    »Ich bin mit dem Boot gekommen.« Grant nahm ihr das Skizzenbuch aus den Händen und blätterte durch die Seiten.
    »Für jemanden, dem seine Privatsphäre so heilig ist«, fuhr Gennie ihn an, »haben Sie bei anderen Leuten wenig Respekt davor.«
    »Mag sein.« Er schob ihre Hand einfach beiseite, als sie nach dem Buch griff. Es brodelte in ihr, während er sich ihre Skizzen in aller Ruhe ansah, bei dem einen oder anderen Bild länger verweilte – bis er auf sein skizziertes Bild stieß. Er betrachtete es eine Weile schweigend, dann lächelte er zu ihrem Erstaunen. »Nicht schlecht!«, urteilte er.
    »Ich bin überwältigt von Ihrer Schmeichelei.«
    Grant sah sie einen Augenblick lang an, dann entgegnete er impulsiv: »Eine Liebe ist der anderen ebenbürtig!«
    Er zog den Bleistift aus Gennies Fingern, schlug ein neues Blatt auf und begann zu zeichnen. Verblüfft beobachtete sie seine leichte, sichere Stiftführung, die auf lange Praxis schließen ließ. Mit offenem Mund schaute Gennie zu, wie Grant das Papier mit Linien und Kurven bedeckte, während er leise vor sich hinpfiff. Er zog die Augen zusammen, überlegte einen Moment, fügte dann ein wenig Schatten hinzu und warf den Block schließlich in Gennies Schoß. Sie starrte Grant an, bevor sie einen Blick auf das Bild warf.
    Es stellte zweifellos sie dar, in einer cleveren, mitleidlosen Karikatur: ihre Augen übertrieben – fast unschön schräg, ihre Wangenknochen vernichtend aristokratisch, ihr Kinn betont eigensinnig. Mit den leicht geöffneten Lippen und dem zurückgelegten Kopf wirkte sie wie eine ungnädige Dame der höheren Gesellschaft. Gennie betrachtete die Karikatur volle zehn Sekunden lang, bevor sie in ein vergnügtes Lachen ausbrach.
    »Sie Ekel!«, rief sie und lachte erneut. »Ich sehe aus, als ließe ich soeben einen Untertan enthaupten.«
    Warum tat sie ihm nicht den Gefallen und wurde böse oder war beleidigt? Dann

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