Bei Tag und bei Nacht
Bohnen. Um sie herum scharrten Hühner.
Gennie parkte ihren Wagen am Ende der Straße und stieg aus. Diese Umgebung hatte nichts gemeinsam mit der rauen Felsenküste bei Windy Points Leuchtturmstation. Sie unterschied sich auch vom ruhigen Hinterland rings um Gennies Häuschen. Aber es bestand zwischen allem ein Zusammenhang. Die See hatte ihre unmissverständlichen Spuren hinterlassen.
Auf ihrem Spazierweg durch den Ort freute sich Gennie, wenn sie Stimmen hörte, obwohl sie die Menschen nicht kannte. Nirgendwo auf ihrer Fahrt quer durch New England hatte es ihr so gut gefallen wie in Windy Point. Lag es am Meer mit seinem geheimnisvoll stimulierenden Einfluss? Oder an dem Mann, der hier lebte?
Gennie fragte sich, wann sie ihn wiedersehen würde. Sie musste sich eingestehen, dass er ihr fehlte. Sie vermisste die barschen Worte, das Stirnrunzeln und das versteckte Lächeln sowie den unerwarteten Humor und das amüsierte oder spöttische Aufleuchten seiner Augen. Am schwersten fiel es ihr zuzugeben, dass sie Sehnsucht nach der zornigen Leidenschaft hatte, die so plötzlich auflodern konnte.
Gennie lehnte sich an die raue Mauer eines Gebäudes und überlegte, ob irgendein anderer Mann auf der Welt wie Grant war. Sie konnte es sich nicht vorstellen. Nie war es ihr in den Sinn gekommen, nach einem Ritter in schimmernder Rüstung zu suchen. Wie mühsam, sich als hilflose Lady aufzuführen. Das würde sie bestimmt nicht tun. Und übertriebene Höflichkeit stand einer intelligenten Beziehung meist im Weg. Grant Campbell hätte dazu kein Talent, und ein anlehnungsbedürftiges weibliches Wesen wäre ihm ein Gräuel.
Sie erinnerte sich ihrer ersten Begegnung und lächelte. Wahrhaftig, eine Lady in Bedrängnis sollte ihn besser meiden. Doch zu ihr passte die Rolle der hilfsbedürftigen Frau auch nicht. Dafür war sie – wie auch er – zu unabhängig.
Nein, Grant suchte keine Lady, und sie suchte zwar keinen Ritter, aber auch keinen Menschenfresser. In letztere Kategorie passte er schon eher. So wohl sie sich in männlicher Gesellschaft auch fühlte, wollte sie doch keinen, der ihr Leben durcheinanderbrachte, es sei denn, sie wäre dafür bereit. Ganz sicher wollte sie nichts mit einem Ungetüm zu tun haben. Wer mochte schon verschlungen werden?
Gennie schüttelte den Kopf und betrachtete den Block. Sie hatte nicht nur an Grant gedacht, sondern ihn auch gezeichnet. Kritisch betrachtete sie ihr Werk. Die Ähnlichkeit war groß. Das Gesicht schien ein wenig ärgerlich. Über der Nase zeigte sich die typische, senkrechte Falte. Sie hatte es gut getroffen. Die glatten Flächen und die Schatten, die aristokratische Nase und das zerzauste Haar. Und den Mund …
Erstaunlicherweise und höchst überflüssig schlug ihr Herz schneller. Genauso hatte sein Mund ausgesehen, bevor er sie küsste: sinnlich und rücksichtslos. Fast konnte sie seine Lippen fühlen und schmecken, hier in der ruhigen Ortschaft mit dem Geruch nach Fisch und dem Duft nach frischen Blumen.
Sorgfältig deckte Gennie den Skizzenblock zu. Es wäre bestimmt wesentlich besser, sich an das Zeichnen von Gebäuden zu halten. Darum war sie ja hier. Gennie steckte ihren Bleistift hinters Ohr, überquerte die Straße und betrat das Postamt. Ein magerer Bursche, an den sie sich noch gut erinnerte, starrte sie bewundernd an. Sie lächelte ihm freundlich zu und ging zum Schalter. Es entging ihr nicht, dass sein Adamsapfel vor Nervosität auf und ab hüpfte.
»Will!«, mahnte Mrs. Lawrence. »Du solltest besser Mr. Fairfield seine Post bringen. Sonst verlierst du deinen Job.«
»Ja, Ma’am.« Er steckte die Briefe zusammen und ließ Gennie nicht aus den Augen. Das Bündel entglitt seinen Händen, und Gennie half ihm, die Umschläge vom Boden aufzusammeln. Er bekam einen feuerroten Kopf und stotterte etwas Unverständliches.
»Will Turner«, erklang erneut Mrs. Lawrences Stimme mit dem ungeduldigen Unterton einer Schullehrerin, »heb die Briefe auf und sieh zu, dass du dich auf den Weg machst.«
»Hier«, sagte Gennie und streckte ihre Hand aus, »du hast einen vergessen!«
Der Junge ließ den Blick nicht von ihr, als er schließlich mit Mühe aus der Tür stolperte.
Mrs. Lawrence lachte trocken: »Hoffentlich stolpert er nicht über den Kantstein.«
»Wahrscheinlich sollte ich mich geschmeichelt fühlen«, überlegte Gennie. »Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand so von mir beeindruckt war.«
»Für Jungens ist es ein schlimmes Alter, wenn ihnen auffällt,
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