Bei Tag und bei Nacht
dass weibliche Wesen etwas anderes sind als sie selber.«
Gennie lachte und lehnte sich auf den Tresen. »Ich wollte mich nochmals bei Ihnen bedanken, dass Sie mich neulich besucht haben. Ich habe beim Leuchtturm gemalt und bin deshalb nicht eher vorbeigekommen.«
Mrs. Lawrences Blick fiel auf Gennies Skizzenblock. »Hat Ihnen bei uns etwas gefallen, was Sie malen möchten?«
»Ja!« Impulsiv blätterte Gennie durch die Seiten. »Die Stadt hat mich vom ersten Augenblick an interessiert. Sie vermittelt das Gefühl von Dauer und Zweckmäßigkeit.«
Prüfend betrachtete die Witwe die einzelnen Skizzen. Gennie nagte ungeduldig an ihrer Unterlippe und wartete auf das Urteil.
»Sie verstehen Ihr Handwerk«, meinte Mrs. Lawrence endlich und hielt ihren Finger auf die Zeichnung von Grant. »Er sieht ein bisschen heftig aus«, fand sie und lächelte fast unmerklich.
»Das ist er auch meiner Meinung nach«, gab Gennie zurück.
»Manche Frau mag einen Schuss Essig in einem Mann.« Ihr Gesicht hatte einen freundlichen, beinahe belustigten Ausdruck. »Ich gehöre zu denen.« Mit einem letzten, prüfenden Blick klappte sie den Block zu, dann schaute sie über Gennies Schulter zur Tür. »Guten Tag, Mr. Campbell!«
Eine Sekunde lang starrte Gennie mit ähnlich intelligentem Ausdruck die Witwe an wie vorher der Junge sie selbst. Dann fasste sie sich und legte ihre Hand auf den Block.
»Guten Tag, Mrs. Lawrence.« Grant stellte sich neben Gennie an den Tresen, der Geruch von See und Wind stieg ihr in die Nase. »Genevieve«, sagte er bedächtig und sah sie mit einem langen rätselhaften Blick an.
In den letzten drei Tagen war er oft an sein Studiofenster getreten und hatte sie bei der Arbeit beobachtet. Er wusste, dass eine weitere Berührung mit Gennie der Beginn einer Straße ohne Umkehr wäre. Nur deshalb war er ihr all die Tage ferngeblieben. Trotzdem war er keineswegs sicher, ob sie beide das Ende ihrer Beziehung erreicht hatten.
Gennie dachte an den stotternden, errötenden Burschen und richtete sich unwillkürlich auf. »Hallo, Grant!« Sie versuchte in ihr Lächeln mehr Spott als warme Wiedersehensfreude zu legen. »Ich dachte, Sie hielten schon Ihren Winterschlaf.«
»Ich hatte zu tun«, entgegnete er leichthin, »und wusste nicht, dass Sie noch hier sind.« Zufrieden beobachtete er, wie Gennie gegen ihren aufsteigenden Ärger ankämpfte.
»Ich werde noch eine ganze Weile länger bleiben.«
Mrs. Lawrence legte ein dickes Bündel Postsachen für Grant auf den Tresen. Daneben packte sie einen Stapel Zeitschriften. Auf dem obersten Brief und der Banderole mit der »Washington Post« konnte Gennie eine Absenderadresse in Chicago erkennen, bevor Grant alles einsteckte. »Danke.«
Nachdenklich blickte Gennie ihm nach, als er das Postamt verließ. Es waren mindestens ein Dutzend Briefe und genauso viele Zeitungen gewesen. Was tat ein Mann, dessen Heim ein verlassener Leuchtturm auf einer Felsenklippe war, mit Korrespondenz aus Chicago und Washington?
»Ein gut aussehender junger Mann«, hörte sie die Witwe sagen.
Gennie murmelte eine Antwort und wandte sich auch dem Ausgang zu. »Auf Wiedersehen, Mrs. Lawrence.«
Die Witwe klopfte nachdenklich mit den Fingern auf den Tresen. So viel Spannung in der Luft hatte es seit dem letzten Sturm nicht gegeben. Vielleicht braute sich wieder einer zusammen.
Ein wenig verwirrt setzte Gennie die Wanderung durch den Ort fort. Es ging sie natürlich nichts an, weshalb ein merkwürdiger Einsiedler so eine Menge Post bekam. Vielleicht hatten sich die Sendungen seit Monaten gestapelt, wer wusste das schon. Andererseits war es nur die gestrige Zeitung gewesen. Sie schüttelte den Kopf und kämpfte gegen ihre Neugier an. Das war nicht wichtig. Jedenfalls hatte sie sich Grant gegenüber keine Blöße gegeben.
An einer Hausecke blieb sie stehen und begann eine neue Skizze.
Ich sollte mir überlegen, was ich noch einkaufen muss, rief sie sich zur Ordnung, als ihre Gedanken immer wieder abschweiften. Aber die rechte Stimmung war verflogen. Seit Grant neben ihr am Postschalter gestanden hatte, waren Ruhe und Gelassenheit der vergangenen Stunden wie weggeblasen. Gennie versuchte mit aller Kraft, sich zu konzentrieren. Es wäre besser, ihre Ausgeglichenheit wiederzufinden, bevor sie sich auf den Heimweg machte und eine weitere einsame Nacht anbrach.
Ziellos spazierte sie fast bis zum Ende der Ortschaft, als ihr der Kirchhof einfiel. Dort gab es genügend Motive, um sich müde zu
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