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Bei Tag und bei Nacht

Bei Tag und bei Nacht

Titel: Bei Tag und bei Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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Gennie. »Grant«, begann sie und streckte die Hand aus.
    »Heute Abend nicht«, wiederholte er.
    Gennies Hand zuckte zurück, als ob er sie daraufgeschlagen hätte. »Gut.« Ihr Stolz half ihr, sich nicht anmerken zu lassen, wie weh die Zurückweisung tat. »Es war nett, dich hierzuhaben.« Sie drehte sich um und ging zum Haus.
    Grant schaute Gennie nach, murmelte eine Verwünschung und machte Anstalten, ihr zu folgen. »Gennie!«
    »Gute Nacht, Grant.« Die Tür fiel hinter ihr zu.

7. K APITEL
    Das Licht wurde schlechter. Gennie warf einen wütenden Blick auf die Wolken, die von Norden heranpeitschten. Verdammt, sie war noch lange nicht fertig. Dabei war sie sicher, dass die gegenwärtige Stunde zu den seltenen gehörte, die ein Künstler als begnadet bezeichnete. Alles klappte auf Anhieb. Die Kraft floss aus ihrer Seele und ihrem Herzen direkt in die Hand, die den Pinsel führte. Was in diesem Augenblick auf der Leinwand entstand, würde bleibend sein, beeindruckend und gut. Sie müsste sich nur treiben lassen. Und gerade jetzt braute sich ein Sturm zusammen und jagte sie in dieses Wettrennen mit den Wolken.
    Das Licht würde höchstens noch dreißig Minuten bleiben. In spätestens einer Stunde regnete es bestimmt in Strömen, und an Arbeit war dann nicht mehr zu denken. Gelegentlich übertönte schon fernes Donnergrollen das Rauschen der Brandung. Wieder sah Gennie zum Himmel. Ob sie es trotzdem schaffen konnte?
    Der Impuls weiterzumachen drängte sie – denn heute würde es ihr gelingen. Alles! Was sie an den Tagen vorher gemalt hatte, die Skizzen und Entwürfe auf der Staffelei, es waren nur Vorbereitungen gewesen für das, was sie heute schuf.
    Der sich verstärkende Wind war ein Spiegelbild von Gennies innerem Aufruhr, in den sie eigentlich bereits seit der vergangenen Nacht, nachdem Grant gegangen war, versetzt worden war. Das Aufgewühltsein beflügelte ihr künstlerisches Schaffen. Gennie ließ es in ihre Malerei einströmen. Dadurch konnte sie sich davon befreien, und sie spürte erleichtert, wie der Druck in ihrem Herzen nachließ.
    Brauchte sie Grant? Die Antwort war nein. Weder ihn noch jemand anderen. Sie strich mit dem Pinsel über die Leinwand, während sie darüber nachdachte. Die Kunst füllte ihr Leben ganz aus und reinigte alle Wunden. Solange ihre Augen sehen konnten und ihre Hand einen Stift oder einen Pinsel zu halten vermochte, würde sich daran nichts ändern.
    Schon während ihrer Kindheit war die Arbeit ein Freund gewesen. Später wurde ihr Talent fordernd, wie ein Geliebter, und genauso begierig nach ihrer Leidenschaft.
    Das war auch jetzt so: Vibrierende, körperliche Erregung trieb Gennie vorwärts. Die Stunde war reif, und die elektrische Spannung in der Luft verstärkte noch das kreative Drängen, das in ihr brodelte. Wenn nicht heute, dann niemals!
    Die Wolken rasten näher, doch Gennie war sicher, sie besiegen zu können.
    Grant trat aus dem Turm. Er ahnte, dass etwas in der Luft lag. Wie ein Tier hatte er eine unbestimmte Witterung aufgenommen und konnte nun von der Spur nicht ablassen, deren Ziel ungewiss war. Schon seit früher Morgenstunde hatte er es gespürt und war voller Unruhe hin und her gelaufen. Ein Sturm zieht auf, sagte er sich immer wieder, nur deshalb kann ich nicht schlafen. Er wusste aber, ohne dafür eine Erklärung zu finden, dass seine Unrast nur zum Teil auf das Wetter zurückzuführen war. Irgendetwas braute sich zusammen und würde heftiger werden als der Hexenkessel am Himmel.
    Grant war hungrig, wollte aber nichts essen. Er war unzufrieden und wusste nicht, weshalb. Im Studio beengten ihn die Wände, störten die Glasschränke und sogar der Zeichentisch. Schließlich suchte er instinktiv den Weg nach draußen, wo der Wind die See peitschte und schwarze Wolken vor sich hertrieb. Und wo er Gennie vermutete.
    Grant hatte nicht an sie denken wollen und war überzeugt davon, dass es ihm auch gelungen wäre. Im Unterbewusstsein jedoch hatte er deutlich ihre Nähe gespürt. Trotzdem traf ihn ihr Anblick wie ein Blitz – wie das silbrige Wetterleuchten am Horizont.
    So hatte er sie noch nie gesehen. Aufrecht stand sie vor der Staffelei, den Kopf zurückgeworfen und vollkommen versunken in ihre Arbeit. Natürliche Wildheit lag in ihrer Haltung, den wehenden schwarzen Haaren und den leuchtend grünen Augen. Mit starkem, sicherem Strich führte sie den Pinsel über die Leinwand. Eine Königin, die in ihr Reich blickte? Oder eine Frau, die den Liebsten erwartete?

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