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Bei Tag und bei Nacht

Bei Tag und bei Nacht

Titel: Bei Tag und bei Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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jemandem zusammen den Sonnenuntergang erlebt hatte. Wann er die Sehnsucht danach verspürt hatte. Nun schien es so einfach. Auf eine erschreckende Art einfach. Würde er von jetzt ab bei jedem Sonnenuntergang an Gennie denken müssen?
    »Erzähl mir von deinem Lieblingssommer«, bat er abrupt.
    Gennie überlegte: Ihr fiel ein Sommer in Südfrankreich ein und ein anderer auf ihres Vaters Jacht in der Ägäis. Lächelnd beobachtete sie, wie das Rot der Wolken dunkler wurde.
    »Ich war vierzehn Tage bei meiner Großmutter, während meine Eltern ihre zweite Hochzeitsreise in Venedig verlebten. Das waren lange, faule Tage mit Bienengesumm um Geißblattblüten. Vor meinem Zimmerfenster stand eine alte Eiche. Sie war ganz mit Moos bewachsen. Eines Nachts bin ich hinausgeklettert auf einen dicken Ast. Von dort aus habe ich die Sterne betrachtet. Ich muss damals zwölf gewesen sein. In den Pferdeställen arbeitete ein junger Bursche.« Gennie lachte leise, als sie sich daran erinnerte, und schmiegte sich noch enger an Grant. »Lieber Himmel! Er hatte Ähnlichkeit mit Will: so eckig und unbeholfen.«
    »Du warst verrückt nach ihm.«
    »Stundenlang habe ich mich in den Ställen aufgehalten, habe sie ausgemistet und Pferde geputzt, nur um einen Blick von ihm zu erhaschen. In mein Tagebuch schrieb ich endlose Seiten über ihn und ein sehr rührseliges Gedicht.«
    »Das du unter deinem Kopfkissen verstecktest.«
    »Offensichtlich kennst du Zwölfjährige, wenn auch nur oberflächlich, wie mir scheint.«
    Grant dachte an Shelby und lächelte breit. Sein Kinn hatte er auf Gennies Kopf gestützt. Ihr Haar duftete nach wilden Blumen. Seine Arme hatte er um ihre Schultern gelegt. »Wie lange hat es gedauert, bis du ihn endlich dazu gebracht hast, dich zu küssen?«
    »Ganze zehn Tage! Danach glaubte ich die Antwort gefunden zu haben auf alle Geheimnisse des Universums. Nun war ich ja eine Frau.«
    »Kein weibliches Wesen ist davon mehr überzeugt als eine Zwölfjährige.«
    Gennie lächelte in den Abendhimmel. »Deine Erfahrungen scheinen doch nicht nur oberflächlich zu sein«, stellte sie fest. »Eines Nachmittags fand ich Angela. Sie saß kichernd über meinem Tagebuch. Durch das ganze Haus habe ich sie gejagt! Sie war damals …« Gennie versteifte sich, als die alte Wunde schmerzhaft aufbrach. Bevor Grant sie festhalten konnte, hatte sie sich ihm entzogen. »Sie war zehn«, fuhr Gennie leise fort. »Ich drohte, ihr die Haare vom Kopf zu rasieren, wenn sie auch nur ein Sterbenswörtchen von dem verlauten ließe, was im Tagebuch stand.«
    »Gennie!«
    Sie schüttelte den Kopf und wich Grants Hand aus, die ihr durchs Haar fahren wollte. »Es wird schnell dunkel. Man kann die Grillen schon hören. Du solltest dich auf den Heimweg machen.«
    Grant litt, als er Schmerz und Tränen in Gennies Stimme hörte. Es wäre besser, sie jetzt allein zu lassen, einfach wegzugehen. Im Trösten hatte er keine Übung. Zärtlich massierte er ihre Schultern. »Das Boot hat Scheinwerfer. Komm, setz dich zu mir.« Er ignorierte ihren Widerstand und zog sie auf die Verandaschaukel. »Meine Großmutter hatte so eine Schaukel«, sagte er in leichtem Ton, während er die Schaukel zum Schwingen brachte. »Ihr gehörte ein kleines Strandhaus an der Ostküste von Maryland. Ein ruhiger kleiner Ort. Das Land ist so flach, als wäre es abgehobelt worden. Bist du schon in Chesapeake gewesen?«
    »Nein.« Gennie entspannte sich und schloss die Augen. Die gleichmäßige Bewegung wirkte beruhigend, und Grants Stimme klang außergewöhnlich weich. Sie hatte nicht gewusst, dass er in so sanftem Ton sprechen konnte.
    »Weichschalenkrabben gibt es dort und unendliche Tabakfelder.« Grant spürte, wie der Krampf aus Gennies Schultern wich. »Wir mussten eine Fähre nehmen, um zum Haus zu kommen. Es war dem hier sehr ähnlich, nur zweigeschossig. Mein Vater nahm mich mit zum Fischen. Wir brauchten nur die Straße zu überqueren. Mit einem Stück Käse als Köder habe ich meine erste Forelle gefangen.«
    Grant sprach weiter. Unwichtige, längst vergessene Dinge fielen ihm wieder ein, und er erzählte alles, was ihm in den Sinn kam. Es schien im Augenblick für Gennie das Richtige zu sein. Er war sich nicht sicher, ob er ihr mehr bieten könnte.
    Er hielt die Schaukel in Gang, und Gennies Kopf lehnte an seiner Schulter. Mit Erstaunen stellte er fest, wie viel friedlicher und schöner die Dämmerung sein konnte, wenn man mit jemandem zusammen hineinträumte.
    Gennie seufzte

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