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Bei Tag und bei Nacht

Bei Tag und bei Nacht

Titel: Bei Tag und bei Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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Grant war sicher, dass es beides war, und sein Herz klopfte schneller, als Verlangen in seinem Blut erwachte.
    Wo war die Frau geblieben, die noch vor wenigen Stunden hilflos in seinen Armen geweint hatte? Das zerbrechliche, wehrlose Geschöpf, das ihn unsicher machte und erschreckte? Er hatte Gennie getröstet, so gut er es verstand. Aber seine Erfahrungen mit weinenden Frauen waren gering. Er hatte über Dinge gesprochen, die seit fünfzehn Jahren vergraben waren, nur um ihr zu helfen. Dann hatte er Angst bekommen, dass er in etwas hineingezogen würde, und war feige vor dem Unvermeidlichen davongelaufen.
    Jetzt sah sie großartig aus, gar nicht mehr verletzlich. Dieser Frau konnte kein Mann widerstehen. Mit einer einzigen Handbewegung akzeptierte sie einen Liebhaber oder warf ihn weg. Grants Furcht verflog. Er spürte die Herausforderung und ein so heftiges Verlangen, dass er fast daran erstickte.
    Als der Donner grollte, unterbrach Gennie einen Moment lang ihre Arbeit, schaute mit einer herausfordernden Kopfbewegung zum Himmel hinauf, als wollte sie Wind und Wetter trotzen. Grant spürte von Neuem, wie ihr Anblick auf ihn wirkte. Wer, um Himmels willen, ist sie? stöhnte er, und warum kann ich ihr nicht aus dem Weg gehen?
    Ich habe es geschafft, frohlockte Gennie triumphierend und atemlos. Die Erregung ließ nach, der Druck wich langsam von ihr. Aber dennoch verspürte sie nicht die gewohnte, wohltuende Entspannung nach vollbrachter Arbeit. Was störte noch und ließ ihr keine Ruhe? Dann sah sie Grant. Hinter ihm stürmte die aufgebrachte See, der Wind blies immer stärker. Gennie hörte in ihren Ohren das Blut rauschen. Einen Augenblick starrten sie sich an, während das Unwetter näher rückte.
    Gennie ignorierte Grant und unterdrückte den innigen Wunsch, auf ihn zuzugehen. Stattdessen blickte sie wieder auf ihre Leinwand. Allein die Kunst hatte ein Anrecht auf ihre leidenschaftliche Hingabe. Und das – nur das – war es, was Gennie brauchte.
    Grant beobachtete, wie sie ihre Sachen packte. Es lag etwas Hoheitsvolles und gleichzeitig Herausforderndes in der Art, wie sie das tat. Gennie hatte ihm den Rücken zugekehrt, und ihre Blicke konnten sich nicht mehr treffen. Als die Erde unter dem nächsten, gewaltigen Donnerschlag erbebte, ging er zu ihr.
    Wolken verdunkelten die Sonne, die Luft schien sich elektrisch aufzuladen und Funken zu sprühen. Mit schnellen, sicheren Bewegungen hatte Gennie ihre Sachen verstaut. Heute war es ihr gelungen, den Sturm zu besiegen. Von nun an würde sie alles besiegen können.
    »Genevieve!« Sie war im Augenblick nicht Gennie. Im Kirchhof, wo sie fröhlich war wie ein junges Mädchen, und auch später, als sie weinend in seinen Armen lag … da war sie Gennie gewesen. Diese Frau hier konnte tief und verführerisch lachen und würde keine Tränen vergießen. Ganz gleich, wen von beiden er vor sich hatte, Grant fühlte sich von ihr unwiderstehlich angezogen.
    »Grant!« Gennie schloss ihren Malkasten, ehe sie sich zu ihm umwandte. »Du bist früh aufgestanden.«
    »Du hast es geschafft. Das Bild ist fertig.«
    »Ja.« Der Sturm blies ihm das Haar in die Stirn. Sein Gesicht war beherrscht, doch die Augen blickten ruhelos. Gennie wusste, dass ihre Gefühle auch seine Gefühle waren. »Ich habe es geschafft.«
    »Du wirst jetzt fortgehen.« Er beobachtete das Aufleuchten ihrer Augen, das er nicht zu deuten vermochte.
    »Von hier?« Sie warf den Kopf in den Nacken und blickte auf die See. Höher und höher türmten sich die Wellen. Kein Boot wagte sich hinaus. »Ja. Ich habe noch andere Motive, die ich malen möchte.«
    Hatte er sich das nicht gewünscht? Er wollte sie doch vom ersten Augenblick an loswerden.
    »Du bekommst deine Einsamkeit zurück.« Gennie lächelte kurz und spöttisch. »Das ist für dich am wichtigsten, nicht wahr? Und ich habe auch das bekommen, was ich wollte.«
    Seine Augen verengten sich. »Hast du das tatsächlich?«
    »Sieh es dir an!« Mit einer großzügigen Handbewegung lud sie ihn ein.
    Grant hatte das Bild nicht betrachten wollen. Mit voller Absicht hatte er jeden Blick darauf vermieden. Doch Gennies Geste war zu anmaßend, um ignoriert zu werden. Die Daumen fest in seine Hosentaschen gehakt, wandte er sich der Leinwand zu. Er sah die Kraft der grenzenlosen See, ihren Ruhm und die immerwährende Verlockung. Gennie hatte gedämpfte Farben vermieden und leuchtende verwendet. Zugunsten von Kraft hatte sie auf Zartheit verzichtet.
    Was einstmals eine tote

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