Bei Tag und bei Nacht
Schultern gelegt, während sie die Bucht entlanggingen. Doch er wusste, dass es ihr guttun würde zu reden.
»Erzähl mir alles, Gennie.«
»Ich musste an den Unfall denken«, sagte Gennie langsam, aber ihre Stimme war ruhiger geworden. »Manchmal, wenn ich davon träume, bin ich schnell genug, um dem Wagen auszuweichen. Dann ist alles in Ordnung. Nur beim Erwachen ist gar nichts mehr in Ordnung.«
»Eine ganz natürliche Reaktion«, sagte Grant, obwohl der Gedanke an die Albträume, die Gennie heimsuchten, ihn zu quälen begann. Er hatte einige Albträume selbst durchlebt. »Es verliert sich nach einer Weile.«
»Ich weiß. Es ist schon viel besser geworden.« Gennie atmete tief ein. »Wenn ich träume, sehe ich alles ganz deutlich vor mir. Ich kann den Regen auf der Windschutzscheibe und die Pfützen auf der Straße erkennen. Und ich höre Angelas Stimme. Sie war so voller Leben, Grant, nicht nur ihr Gesicht, sondern alles an ihr. Sie hatte sich die Süße der ganz Jungen bewahrt. Auf einer Party hatte sie jemanden kennengelernt, in den sie sich verliebt hatte. Ihre letzten Worte waren, wie wundervoll sie sich fühle. Dann habe ich Angela getötet.«
Grant nahm Gennie bei den Schultern und schüttelte sie heftig. »Was für ein Unsinn ist das!«
»Es war mein Fehler«, fuhr Gennie mit erschreckender Ruhe fort. »Wenn ich den Wagen nur eine Sekunde eher gesehen hätte! Oder wenn ich gebremst hätte, aufs Gaspedal getreten, irgendetwas. Der Zusammenstoß traf nur ihre Seite. Ich bin mit einer leichten Gehirnerschütterung davongekommen, ein paar blaue Flecken, aber Angela …«
»Würdest du dich besser fühlen, wenn du auch schwer verletzt worden wärest?«, fragte Grant ungehalten. »Du kannst um deine Schwester trauern, um sie weinen, aber du kannst nicht die Schuld auf dich nehmen.«
»Ich fuhr doch den Wagen, Grant. Wie könnte ich das jemals vergessen?«
»Nicht vergessen«, entgegnete er heftig, vom dumpfen Schmerz in Gennies Stimme gereizt. »Aber du musst es aus der richtigen Perspektive sehen! Du weißt ganz genau, dass du absolut nichts machen konntest.«
»Du verstehst mich nicht, Grant.« Gennie schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. »Ich liebte sie so sehr. Sie war ein Teil von mir, und ich brauchte sie. Wenn man jemanden verliert, der einem so nahesteht, dann klafft eine schreckliche Lücke.«
Grant verstand – den Schmerz, die Not und die Vorwürfe. Gennie gab sich die Schuld am Tod ihrer Schwester. Grant gab seinem Vater die Schuld, dass er sich der Gefahr ausgesetzt hatte. Doch der Verlust blieb gleich groß. »Dann musst du lernen, mit dieser Lücke zu leben.«
»Woher willst du wissen, wie das ist?«
»Mein Vater wurde getötet, als ich siebzehn war«, sagte er und hätte diese Worte doch lieber unausgesprochen gelassen.
Gennie ließ den Kopf an seine Brust sinken. Sie wusste, dass Grant keine tröstenden Worte hören mochte. »Was hast du getan?«
»Gehasst – eine lange Zeit. Das war einfach.« Ohne sich dessen bewusst zu sein, hielt er Gennie wieder fest an sich gedrückt, suchte – und gab auf diese Weise zugleich – Trost. »Sich damit abzufinden ist schwerer. Jeder macht es auf seine Weise.«
»Wie hast du es schließlich bewältigt?«
»Mir wurde klar, dass ich nichts hätte tun können, um es zu verhindern.« Grant schob Gennie so weit von sich, dass er in ihr Gesicht sehen konnte. »Genauso wenig, wie du es verhindern konntest.«
»Danke. Ich weiß, dass du davon zu mir nicht sprechen wolltest, wie ich auch nicht mit dir darüber sprechen wollte. Man kann sehr selbstsüchtig seinen Kummer hüten – und sein Schuldgefühl.«
Grant strich ihr das Haar an den Schläfen zurück. Er küsste ihre Wangen, die noch feucht von Tränen waren. Eine starke Welle der Zärtlichkeit ließ ihn erzittern. Gennie machte ihn wehrlos und verletzlich. Würde er sie jetzt küssen – richtig küssen –, hätte sie alle Macht der Welt über ihn errungen. Er musste mehr Kraft aufbringen, um sich von ihr zurückzuziehen, als er sich das hätte vorstellen können.
»Ich muss zurück«, sagte er und steckte die Hände absichtlich tief in die Taschen. »Kann ich dich allein lassen?«
»Ja, aber es wäre schön, wenn du bliebest.« Die Worte waren heraus, noch ehe Gennie darüber hatte nachdenken können. Etwas flackerte in seinen Augen auf. Sehnsucht, Verlangen und noch etwas, das er rasch verbarg, indem er die Augen niederschlug.
»Nicht heute.«
Der Ton seiner Antwort verwirrte
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