Bei Tränen Mord: Roman (German Edition)
Weiter mit der Liste.
Henrietta
Stunk.
Henrietta
hat keine Lust auf irgendwelche Zeitungsabos, auch nicht auf Kinderkram für ihre
Nichten und Neffen, Wein trinkt sie nicht mehr, seit sie trocken ist, und überhaupt
kauft sie nichts am Telefon. »Lasse Sie mir um Himmels wille mei Ruh!«, kreischt
sie nach gefühlten zehn Sekunden, und ihr Tonfall ist bestenfalls unwirsch zu nennen.
So geht
es weiter, Anruf für Anruf, Kunde für Kundin. Von der brausepulvrigen Energie, die
mich und meine Manolos heute Morgen beflügelt hat, ist nicht der kleinste Rest übrig
geblieben. Doch am schlimmsten ist die Tatsache, dass ich nicht einmal Geld für
eine Packung Trost-Trüffelpralinés im Portemonnaie habe. Womit soll ich mir bloß
den Abend dieses unglückseligen Tages versüßen?
Zehn Minuten
vor Schluss. Ich muss mindestens noch einen Namen der nicht enden wollenden Liste
abarbeiten. Zu gerne würde ich dem vertrockneten Dürrbier wenigstens einen Erfolg
präsentieren.
»Rupert
Kunze. Hallo?«
»Schönen
guten Abend, Herr Kunze, Mediaboutique hier, Lucinda Schober am Apparat.«
»Hey, Kätzchen,
geile Stimme. Warum rufst du nicht immer an?« Ach Gott, so einer auch noch! Wenn
der Dürrbier schon solche Horrorlisten führt, nach Bundesländern und Artikeln sortiert,
dann könnte er wenigstens ein paar warnende Bemerkungen neben die Namen schreiben.
Bei Rupert zum Beispiel so was wie ›notgeil‹. Puh, ich merke schon an meiner Wortwahl,
dass ich meine Grenzen erreicht habe.
Ich bemühe
mich um ein nichtssagendes Kichern, dann sage ich: »Herr Kunze, wir hätten da ein
super Angebot für Sie.«
»Her damit«,
unterbricht er mich, »wenn du’s bist. Wo finde ich dich, geiles Stück? Was trägst
du? Bist du nackt?«
Entsetzt
schaue ich auf dem Bildschirm nach: Rupert Kunze lebt in einem Ort in der Nähe von
Saarlouis. Mist! Ganz richtig hat er schon an meinem minimalen Akzent erkannt, dass
ich Saarländerin bin. »Hey, du kommst aus Saarlouis, hab ich recht? Oder aus Wellingen.
Püppi, du machst mich ganz heiß. Ich liebe die Saarlouiser Mädchen.«
»Herr Kunze,
möchten Sie ›Reife Wonnen‹ abonnieren oder nicht?«
»Dich will
ich abonnieren, Kleines. Lucinda war dein Name, oder?« Er lacht. Mir wird schlecht.
»Nein. Herr
Kunze, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.«
Bevor ich
auflege, höre ich noch: »Verfluchtes Stück Scheiße …«
Endlich
ist seine Stimme weg. Ich sacke auf meinem Stuhl zusammen. Ich bin keine Heulsuse,
wirklich nicht. Aber jetzt ist der toughe Zwilling einfach verduftet, und nur der
andere ist hiergeblieben, der noch klein und verletzlich ist. Und der lässt die
Tränen aus seinen Kanälen fließen, während ich den Stuhl zurückschiebe, mir meine
Tasche schnappe und mit hängenden Schultern das Büro verlasse. Die nächste Schicht
kommt gleich und wird alle Stühle wieder besetzen, um ihr Glück bei den Rupert Kunzes
dieser Welt zu versuchen. Am Fahrstuhl treffe ich erneut Maurice. Der gute Junge
wird erst nach Hause gehen, wenn er die benutzten Kaffeetassen und -becher weggeräumt
und frischen Kaffee für die nach uns Kommenden aufgebrüht hat.
»Oh«, sagt
er, »Lucy, was is ’n passiert?«
»Ach, ich
hatte einen grässlichen Nachmittag. Am schlimmsten war mein letzter Kunde, Rupert
Kunze. Ich hoffe, dass ich ihm nie im wahren Leben begegnen werde.«
Maurice
macht etwas für ihn völlig Untypisches: Er legt mir die Hand auf den Oberarm. »Morje
is wieder e’ neuer Tag.«
Seine Freundlichkeit
muntert mich tatsächlich ein wenig auf. Als der Fahrstuhl unten ankommt, habe ich
mich einigermaßen beruhigt. Aber sagte ich es nicht schon ganz zu Anfang: Immer
wenn ich weinen muss, passiert eine Katastrophe.
Beim Verlassen
des Gebäudes wische ich mir mit einem Papiertaschentuch über das Gesicht und denke
einfach nicht an das Lüftungsgitter neben der Eingangstür. Ich denke auch nicht
an meine Manolos mit den Zwölf-Zentimeter-Absätzen und daran, dass diese Absätze
so dünn sind wie Bleistifte.
Ach, es
zerreißt mir das Herz. Sicher wissen Sie schon, was gleich geschehen wird. Die größte
anzunehmende Katastrophe nimmt ihren Lauf. Tränenblind (nun gut, beinahe) stöckle
ich nach draußen Richtung Parkplatz, wo ich meinen alten Twingo abgestellt habe.
Ja, und dann war’s das mit meinen neuen sonnenblumengelben Manolos. Ich bleibe stecken,
und beim Versuch, den Fuß aus dem vermaledeiten Gitterschacht zu ziehen, schrappe
ich das Leder komplett auf. Doch damit nicht
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