Bei Tränen Mord: Roman (German Edition)
Gericht ziehen. Na ja, dass Menschen, die im
Callcenter arbeiten, ein dickes Fell brauchen, ist ja bekannt. Und letzten Endes
liegt es ganz bei uns, wie sehr wir uns davon runterziehen lassen. Ach, ich bringe
einfach nicht die Energie auf, für mein Recht zu kämpfen.
Mein Schweigen
verrät meiner Schwester anscheinend, was in mir vorgeht. Sie seufzt. »Lu, ich weiß
schon, du kriegst den Arsch nicht hoch, um für deine Rechte einzustehen. Ich verstehe
dich nicht. Du hast doch echt Grips. Warum fängst du nicht endlich was anderes an?«
Damit geht
dieses Gespräch in eine Richtung, die ich ganz und gar nicht wünsche. Ich finde
sofort den richtigen Knopf, um Kats Predigt schon im Ansatz abzuwürgen. »Kat, einen
Sermon dieser Art kann ich jetzt nicht gebrauchen. Außerdem ist dafür Papa zuständig.
Oder Mama. Oder Rouwen. Oder A-Mi. Jedenfalls gibt es schon vier Menschen – mindestens
–, die sich in meinem Leben als Moralapostel aufspielen. Da will ich so etwas nicht
auch noch von meiner geliebten Rebellenschwester hören. Klar?«
»Geht klar,
Süße. Hör mal, Susa meint, wir könnten zusammen essen gehen. Wir beide müssen mal
aus dem Stall raus.«
»Hmm …«
Ich denke an mein überzogenes Konto und werfe der geplünderten Pralinenpackung einen
wehmütigen Blick zu. Dann räuspere ich mich. »Also …«
»Du bist
abgebrannt, hab ich recht? Was hast du dir denn gegönnt?«
Erst in
dieser Sekunde kommt es wieder hoch. All meine Bemühungen, das wahre Desaster zu
verdrängen, sind auf einen Schlag hinfällig. Ich drehe mich im Sessel um, in den
ich mich gefläzt habe, und wische dabei mit dem Fuß die Wodkaflasche vom Couchtisch.
Auf dem Bildschirm läuft gerade der Vorspann von ›Grey’s Anatomy‹. Der blaue Vorhang
schwingt über einem Paar knallroter High Heels zu. Als ob ich dieses Hinweises noch
bedürfte … Ich sauge den Anblick des Unglücks bereits mit meinen Augen auf. Da stehen
sie, nein, der eine Schuh liegt. Man kann noch ganz klar die edle Form und die schmeichelnde
Farbe erkennen, doch es lässt sich nichts beschönigen. Dieses Meisterwerk der Schuhkunst,
von einem Gott entworfen, von begnadeten Engeln hergestellt – es ist ruiniert.
»O-o-oh-oh«,
schluchze ich los und kann kein klares Wort formulieren. »Meine … meine … meine
…«
»Schuhe!
Stimmt’s? Was ist mit ihnen passiert?«
»Manolos!«
Meine Stimme kippt.
Kat schnaubt.
Im Radio labert jemand über das Leben und Werk von Mozart. Ich liebe Mozart, aber
in dieser Sekunde könnte ich das vermaledeite Telefon, in dem ständig der Radiofunk
zu hören ist, an die Wand schmeißen. Muss jetzt wirklich auch noch das Lacrimosa
aus dem Requiem erklingen, um mein Leid zu steigern?
»Kat, echte
Manolos!«
»Hast du
Manolos gesagt?«, erklingt Susas Stimme. Susa hat mit mir studiert und mit mir geschmissen.
Bei ihr war der Grund eine unsterbliche Liebe, für die sie einfach alles aufgegeben
hätte. Alles, außer ihrem Schuhtick, der uns seit den ersten Studientagen zusammenschweißte.
Susas Liebesgeschichte endete in Glückseligkeit. Sie liebt nämlich meine allerbeste
Schwester Katharina Schober, genannt Rebellenkat. Kat liebt sie genauso sehr wieder.
Nur in Sachen Schuhe erzielen sie lediglich einen Minimalkonsens. Aber viele Beziehungen,
vor allem globaler Natur, beruhen auf einem Minimalkonsens. Frieden ist also möglich.
Kat hat zähneknirschend akzeptiert, dass ihre Lebensgefährtin und ihre Schwester
diese allzu weibliche Schwäche teilen. Wir beide lieben Manolo Blahniks – die Schuhe
jenes spanischen Designers, den nicht zuletzt die amerikanische Serie ›Sex and the
City‹ berühmt gemacht hat.
»Sagtest
du wirklich Manolos?« Susas Stimme kippt genauso wie meine vor wenigen Augenblicken.
»Welche Farbe? Wie hoch? Wie teuer?«
»Sonnenblumengelb.«
Susa seufzt
wohlig.
»Zwölf Zentimeter.«
Sie stößt
ein begeistertes Quieken aus.
»Reduziert
auf 590 Euro.«
»Geil! Wann
kann ich sie sehen?«
Ich heule
auf. »Gar nicht mehr! Sie sind hinüber. Ich bin im Gitterschacht vorm Büro stecken
geblieben, habe den ganzen Absatz zuerst aufgeschrappt und dann abgebrochen. Da
ist nichts mehr zu retten!«
»Ach – du
– Schande!« Susas Stimme zittert. Meine Hände zittern. Ich hebe die Wodkaflasche
vom Teppichboden auf. Welch ein Glück, dass der eine meiner Zwillinge so pedantisch
sein kann – er hat den Deckel fest zugedreht. Ich öffne sie und gieße mir ein. Dieses
Mal muss es auch ohne Pflaumensaft gehen. Ich
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