Beichte eines Verfuehrers
ich unwillkürlich auf und suchte im Raum nach Katie. Lachend stand sie in einer Ecke und beugte sich herunter, um Lily mit einem Stück Schokoladenkuchen zu füttern. Ihr Ehemann Evan lehnte sich entspannt neben ihnen in einem Stuhl zurück. Auch er lachte.
Ich blickte meine Mutter an, die den Mund zusammenkniff. „Warum?“
„Sie sieht so müde aus.“
„Wahrscheinlich ist sie auch müde.“
Meine Mutter schnaubte und schüttelte den Kopf. Noch einmal sah ich zu meiner Schwester hinüber und versuchte herauszufinden, was meine Mutter so sehr beunruhigt hatte. Katie war immer topmodisch gekleidet gewesen, aber heute trug sie ein weites T-Shirt, das sich über ihrem kleinen Bauch spannte – inzwischen war sie im vierten Monat – und mit Schokolade beschmiert war. Dazu trug sie eine ausgeblichene Baumwollhose. Sie hatte auf Make-up verzichtet und ihr Haar, das immer etwas heller gewesen war als meins, war zu einem lockeren Knoten hochgebunden. Ja, sie hatte Schatten unter den Augen und ihre Wangen wirkten etwas schmaler als sonst, aber das kam sicher daher, weil sie zu wenig Schlaf hatte und sie immer noch an der morgendlichen Übelkeit litt. Sie trug eine Halskette aus aufgefädelten Makkaroni mit demselben Selbstbewusstsein, mit dem sie früher eine Perlenkette getragen hatte.
„Für mich sieht sie okay aus, Mum.“
„Vielleicht solltest du mal mit ihr reden.“
Im Laufe der Jahre hatte ich genau diesen Spruch unzählige Male gehört. Wann immer Katie Streit mit einer Freundin hatte oder die heiß begehrte Rolle im Schultheater nicht bekommen hatte, sollte ich mit ihr reden. Als ihr der erste Freund das Herz gebrochen hatte, war ich zur Stelle, um sie zu trösten. Als der Chef der Bank, für die sie arbeitete, ihr die Promotion verweigert hatte, weil er einen Mitbewerber bevorzugte, hatte ich ihr zugehört.
„Ach, Mum.“ Ich klang verärgert, und sie bemerkte es.
„Du bist ihre Schwester, Sadie. Mit dir wird sie ja darüber reden, was mit ihr los ist.“
Katies Lachen drang zu uns herüber. Sie drückte Evans Hand, die er nach ihr ausgestreckt hatte. Lily tanzte und hüpfte vor ihren Eltern, und beide blickten ihre Tochter so zärtlich und liebevoll an, dass ich unwillkürlich lächeln musste.
„Warum denkst du, dass irgendwas mit ihr los ist?“
„Ich weiß es einfach.“
Meine Mutter klapperte mit den Tellern und Platten, auf denen das Fleisch und der Käse aus dem Feinkostgeschäft angerichtet waren. Sie waren allesamt schon reichlich abgegrast, und meine Mutter richtete die akkuraten Reihen aus Putenfleisch, Roastbeef und Schinken neu aus, bis sie wieder gerade lagen wie Soldaten, die zum Morgenappell aufgelaufen waren.
Ich wollte nicht länger mit meiner Mutter streiten, nur weil sie glaubte, dass allein eine Mutter wusste, was ihre Kinder brauchten. Diese Diskussion führte ich schon oft genug mit Adams Mutter. Ich hätte ohnehin gegen keine der beiden gewonnen. Und im Übrigen war es auch nichts Neues für mich, dass sie mich zu Katie schickte.
„Dann rede du doch mit ihr.“
Meine knappe Antwort ließ sie aufblicken. Die Gabel verharrte in der Luft, jederzeit bereit, zuzustoßen. Es gibt nichts Schwereres, als der eigenen Mutter irgendwas abzuschlagen, ohne sie gegen sich aufzubringen. Meine Mutter verzog den Mund zu einer verräterisch schmalen Linie. Ich wusste, dass es jetzt auch egal war, ich hatte sie ohnehin schon gegen mich aufgebracht. Denn nicht nur Mütter kennen ihre Kinder; auch Kinder wissen ganz genau, wie sie ihre Mütter zur Weißglut bringen.
„Ich finde einfach, du könntest deine Schwester mal ein bisschen unterstützen“, sagte meine Mutter knapp. „Evan ist ständig unterwegs und jetzt, wo sie schwanger ist, mutet sie sich einfach zu viel zu …“
Es war also wie immer. Seit Katie geboren war, hörte ich immer wieder diesen einen Satz in unzähligen Variationen: „Pass auf deine Schwester auf.“ Es war egal, wie alt wir waren oder was im Leben der Einzelnen gerade passierte. Ich war die ältere Schwester und nie war ich diejenige, um die man sich kümmern musste. Ich war die Verantwortungsbewusste, die Kluge. Als ich jetzt meine Schwester mit ihrem Mann und ihrer Tochter beobachtete, hielt ich es nicht länger aus.
„Mum, ich kann einfach nicht, okay?“ Meine Stimme klang schärfer als beabsichtigt, und sogleich verzog meine Mutter das Gesicht. „Lass mich damit in Ruhe, ich schaffe das nicht.“
„Also gut.“ Sie piekste mit der Gabel in den
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