Beifang
deportiert zu werden.
Einundzwanzig Bewohner waren noch vor der Deportation gestorben. Von den übrigen einhundertdreißig gelang vieren noch die Ausreise, zwei konnten untertauchen. Vier überlebten das Konzentrationslager.
Sonst war bei Kriegsende niemand mehr von ihnen am Leben.
Der Daimler, den Walleter vor dem Rathaus geparkt hatte, war verlassen. Berndorf sah sich um, aber dann schob sich der dicke Mann auch schon aus dem Haupteingang und bewegte sich die Treppe hinab auf seinen Wagen zu, und zwar nicht ohne eine gewisse Grazie oder Gewandtheit, wie sie manchmal bei dicken Leuten zu beobachten ist.
»Ich hab mal ein bisschen mit dem Hausmeister geredet«, sagte Walleter schnaufend, als er den Wagen erreicht hatte und aufschloss. »Nur so ein bisschen geplaudert.«
»Das kann nicht schaden.«
»Der Hausmeister hat eine Cousine, und er war so nett und hat sie angerufen.« Vorsichtig ließ er sich auf seinen Sitz gleiten. Auch Berndorf stieg ein.
»Ja«, meinte er, als er sich angurtete, »es sind nette Leute hier.«
»Die Cousine trägt nämlich das Tagblatt aus und andere Zeitungen, auch die Kirchenblätter.« Walleter startete den Wagen. »Die Marianne Gaspard sei eine ganz eine Herbe gewesen, sagt
die Cousine. Aber an Weihnachten hat sie immer einen Umschlag für die Cousine mit einem Schein drin an den Briefkasten gehängt, das denkt man nicht bei einer, von der der Mann beim Finanzamt war.«
»So«, sagte Berndorf.
»Außerdem war sie evangelisch, jedenfalls dem Kirchenblatt nach«, fügte Walleter hinzu. »Der Pfarrer, der sie beerdigt haben muss, ist im Ruhestand, lebt aber noch in der Gemeinde.« Walleter machte eine Pause, als ob er eine Reaktion erwarte. »Falls Sie mit ihm reden wollen«, fügte er hinzu.
Ach, die Marianne!«, sagte die alte Frau und hielt mit ihrer linken knochigen Hand die zitternde rechte fest. Lisbeth Anderbrück trug eine weiße, mit einer Brosche hochgeschlossene Bluse, und das schüttere schneeweiße Haar war nach hinten gebunden. »Die ist nun auch schon tot, wie viele Jahre schon!«
»Sie ist vor vier Jahren gestorben«, sagte Berndorf. Er saß auf einem mit kognakfarbenem Stoff bezogenen Sesselchen, in einem hellen Zimmer, von dem aus man auf die südlichen Hänge über dem Blautal sah, und mit einem weiß bezogenen Bett darin. Es roch nach Medizin und Greisentum, von Lavendel übertönt.
»Vier Jahre, natürlich! Wie die Zeit vergeht...« Sie beugte sich vor und betrachtete Berndorf aus wässerigen hellblauen Augen. »Warum, sagten Sie, wollten Sie mich sprechen?«
Berndorf erklärte es noch einmal. Er versuche, Herkunft und Verbleib eines Schmuckes aufzuklären, der Marianne Gaspard gehört habe. »Waren Sie mit ihr befreundet?«
»Befreundet?« Sie schüttelte den Kopf. Das Wort schien ihr nichts mehr zu sagen. Vielleicht sind alte Menschen so, dachte Berndorf. Die anderen Menschen sind nett zu ihnen, oder sie sind es nicht. Sonst gibt es nichts.
»Sie war dumm«, sagte sie plötzlich. »Eine dumme Person.«
»Ja?«, fragte Berndorf. »Hat sie etwas Dummes getan? Oder gesagt?«
Lisbeth Anderbrück hob den Kopf, die Lippen fest zusammengepresst. »Jetzt ist sie ja tot. Da soll man nichts mehr sagen. Es gehört sich nicht.«
»Manchmal ist es besser, etwas zu erzählen«, meinte Berndorf. »Dann muss man es nicht mehr mit sich herumtragen.«
»Ihr Mann war ein Krüppel.« Wieder beugte sie sich nach vorn, diesmal so, als müsse sie eine kleine boshafte Vertraulichkeit weitersagen. »Dabei war er gar nicht im Krieg.«
»Ich habe gehört, er sei bei einem Anschlag verletzt worden, bei einem Attentat?«, fragte Berndorf.
»Ach, Lüge! Ein Unfall war es, mit einem betrunkenen Fahrer, die Marianne hat es mir selbst einmal erzählt.« Sie warf einen Blick auf das gerahmte, mit einem Trauerband versehene Foto, das an der Wand hing. Das Foto zeigte einen dunkelhaarigen jungen Mann in einer dunklen Uniform. »Für die Rente haben sie es dann so hingedreht, dass es die...« - sie suchte nach einem Wort und fand es nicht - »... eben die Russen waren. Alles gelogen! Nur wegen der Rente! Und für die anderen, denen der Mann im Krieg geblieben ist, bleiben gerade ein paar Mark.«
Berndorf deutete auf die Fotografie an der Wand. »Ihr Mann ist gefallen?«
»Klaus-Peter ist am zweiundzwanzigsten Januar abgeschossen worden«, antwortete Lisbeth Anderbrück. »Über Stalingrad. Er war Jagdflieger und hat ein Transportflugzeug … wie sagt
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