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Beifang

Titel: Beifang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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Päckchen für dich!«
     
     
     
    Das Haus lag hoch über der Straße, die vom Blautal zu den Anhöhen der Alb hinaufführte, und mutete mit seinen dunklen Holzschindeln und dem Walmdach auf den ersten Blick an, als sei es vom Schwarzwald hierher verweht worden. Beim genaueren Hinsehen verschwand dieser Eindruck, das Gebäude wirkte nüchtern und sachlich, was auch an dem geometrischen Muster liegen mochte, mit dem sich die weißen Fensterrahmen auf den dunklen Schindeln abzeichneten.
    »Vielleicht können wir eine der Wohnungen besichtigen«, meinte Sebald Thurner, während sie durch den Garten auf das Haus zugingen. »Wenn Ihnen daran gelegen ist …«
    Berndorf zögerte. Thurner, ein knapp mittelgroßer, zierlicher Mann mit einem sorgsam getrimmten Kinnbart, war pensionierter evangelischer Pfarrer und hatte beide Eheleute Gaspard beerdigt. Seine Adresse hatte Berndorf im Pfarramt bekommen, und Thurner war auch durchaus bereit gewesen, ihm Auskunft zu geben. Nur konnte er über die Gaspards nicht viel sagen - »sie waren beide nicht sehr kirchlich, sie vielleicht noch weniger als er« - und schon gar nichts über eine mögliche Verbindung zwischen ihnen und dem einstigen jüdischen Altersheim. Aber er war gerne bereit, ihm das Gebäude zu zeigen.
    »Sie müssen verstehen - als wir hier in der Gemeinde in den achtziger Jahren damit begonnen haben, die Geschichte des jüdischen Landschulheims Herrlingen und dann die des Altersheims aufzuarbeiten oder sie überhaupt wieder in Erinnerung
zu rufen, da hat das manche Leute hier doch überfordert. Der Arbeitskreis, der sich damals gebildet hat, war aus der Friedensbewegung hervorgegangen, und schon das ist bei vielen auf Vorbehalte gestoßen. Sicher auch bei jemandem wie den Gaspards …«
    Sie waren am Haus angekommen, Thurner öffnete die Tür, Berndorf und nach ihm Walleter traten in das Treppenhaus, das einmal zu dem berühmten Landschulheim der Reformpädagogen Anna Essinger und Hugo Rosenthal gehört hatte, vierzig Jahre vor den selbst gebastelten Kinderläden der antiautoritären Erziehung. Aber was heißt berühmt? Nicht mehr in diesem Land, nur weit darüber hinaus.
    Selbst das Treppenhaus sei berühmt, sagte Thurner halblaut: Die Kinder hätten gar zu gerne auf dem Geländer gerutscht, aber das sei zu gefährlich gewesen, so habe man es ihnen verbieten müssen. Aber jedes Mal, wenn Anna Essinger einem Besucher das pädagogische Konzept des Heimes erläuterte - dass es nämlich keine Verbote kenne -, seien die zuhörenden Kinder in ein merkwürdiges Murmeln verfallen, aus dem die Besucher schließlich die Worte: »Treppenrutschen! Treppenrutschen...!« hätten heraushören können. Ein pädagogischer Zielkonflikt also, und wie wurde er gelöst?
    Berndorf wartete.
    »Das Treppenrutschen wurde schließlich doch erlaubt, und die Lehrer wurden zum Aufpassen abgestellt, damit nichts passiert …«
    »Und nach einem Tag hat keines mehr rutschen wollen«, warf Walleter ein.
    »Ich fürchte, es hat drei Tage gedauert«, antwortete Thurner.
    »Wie lange bestand das Landschulheim?«, fragte Berndorf, der Anekdoten hasste.
    »Anna Essinger hat 1933 sofort begriffen, was Hitlers Machtergreifung zur Folge haben wird«, berichtete Thurner eifrig, als sei ihm die Geschichte vom Treppenrutschen doch etwas zu belanglos geraten. »Noch im gleichen Jahr hat sie das Landschulheim nach Südengland verlegt, in die Grafschaft Kent, und von
dort aus hat sie die Transporte jüdischer Kinder nach Großbritannien vorbereitet, solange die noch möglich waren. Das Heim hier ist dann von Hugo Rosenthal bis Ende 1938 weitergeführt worden, aber vor allem mit dem Ziel, die Schüler auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten.«
    Berndorf sah sich in dem Treppenhaus um: Plakate hingen dort und Kinderzeichnungen, die Plakate handelten von der Dritten Welt und der bedrohten Natur. Für einen Augenblick fühlte er sich in die späten achtziger Jahre zurückversetzt, in ein Treppenhaus im Frankfurter Westend, irgendwo musste eines der Poster hängen, das einen allein stehenden Baum zeigt, einen Baum im Wechsel der Jahreszeiten …
    »Danke«, hörte er sich sagen, er wolle keine der Wohnungen besichtigen. Was sollte er den Bewohnern, die vermutlich freundliche, entgegenkommende Leute waren, über den Zweck seines Besuches auch sagen? Dass in einem ihrer Zimmer jemand gelebt, sich aufgehalten haben könne, dem - vielleicht! - ein bestimmter Schmuck gehört hatte? Das war alles zu vage, zu

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