Beifang
antwortete Kuttler und tastete nach seinem Hinterkopf, »kann ja noch kommen.«
»Und? Was sagen die Neckarwerke zu ihrer verblichenen Mitarbeiterin?«
»Zu Frau Morny? Die waren sehr zufrieden mit ihr«, meinte Kuttler zurückhaltend. »Die Kunden offenbar auch. Sie ist immer wieder angefordert worden. Nicht nur vom Landrat. Auch ausländische Herrschaften haben sich gerne Führungen und Gutachten von ihr erbeten.«
Dorpats Miene verfinsterte sich. »Was erzählen Sie da? Was für Führungen und Gutachten?«
»Es waren aber meist Führungen«, erklärte Kuttler. »Gutachten dann, wenn es länger gedauert hat.«
Nach 1968 war im Blautal aus einer Reihe bis dahin selbständiger Dörfer die Großgemeinde Blaustein entstanden, die sich dann als erstes Wahrzeichen ein neues Rathaus errichtet hatte, und zwar einen viereckigen Betonklotz von selbst für die damalige Zeit ungewöhnlicher Hässlichkeit. Aber es gab ein Archiv dort, und Berndorf konnte in die Einwohnerkarteien Einblick nehmen. Tatsächlich war das Ehepaar Otto und Marianne Gaspard 1941 in der damals selbständigen Gemeinde Herrlingen gemeldet gewesen, in einem Wohngebiet oberhalb der Kleinen Lauter. In die Halde 7 - in das Haus also, das an der Blau und auch sehr viel näher an Ulm lag - waren sie erst 1954 umgezogen. Aus der Kartei schrieb sich Berndorf die Namen der Nachbarn ab, die die Gaspards in Herrlingen gehabt hatten; zu einigen dieser Namen gab es Entsprechungen im aktuellen Telefonbuch, aber das mochten die Kinder oder die Enkel sein.
»Otto Gaspard?« Der Gemeindebeamte, der das Archiv verwaltete, war ein noch jüngerer Mann und hatte keine eigene Erinnerung, jedenfalls keine persönliche. »Aber ich weiß, dass der Herr Gaspard sehr angesehen war, ein leitender Beamter im
Finanzamt und ehrenamtlich im Albverein tätig. Irgendwo über dem Kleinen Lautertal ist auch ein Baum nach ihm benannt. Und das Haus in der Halde kenn ich natürlich, wobei das wohl erst in den fünfziger Jahren gebaut worden ist. Die Witwe muss wohl sehr zurückgezogen gelebt haben …«
Berndorf nannte einige der Namen, die er sich aus dem Adressbuch notiert hatte: »Kugler, Weinhold, Anderbrück...«
Der Beamte schüttelte den Kopf. »Also das sind alles jüngere Leute, soweit ich weiß, aber vielleicht wissen die trotzdem etwas … Moment! Anderbrück … Wir haben, glaube ich, im Altersheim eine Frau Anderbrück, der ist vom Bürgermeister erst neulich zum Neunzigsten gratuliert worden.« Er zögerte kurz, dann griff er zum Telefon und holte eine Auskunft ein.
»Ja«, sagte er dann, »die Dame heißt Lisbeth Anderbrück, und sie sei noch sehr rege und interessiert, sagt meine Kollegin, aber ein bisschen boshaft. Also versuchen Sie es, aber ich hab Sie gewarnt …«
Berndorf dankte und wollte gehen, dann fiel es ihm doch ein, nach dem jüdischen Altersheim zu fragen, das in Herrlingen zwischen 1939 und 1942 bestanden hatte - so lange also, bis die letzten Bewohner nach Theresienstadt und weiter in die Vernichtungslager deportiert worden waren.
»Wir haben alle Daten hier«, sagte der Beamte, stand auf und holte einen weiteren Karteikasten. »Aber wenn es Sie interessiert - es gibt eine Dokumentation über das Altersheim, sie ist von unserer Gemeinde herausgegeben worden, und Sie finden darin auch die Kurzbiographien aller Bewohner, soweit die Daten noch ermittelt werden konnten...«
Eine halbe Stunde später verließ Berndorf das Gemeindearchiv, einen schmalen kartonierten Band unter dem Arm. Draußen warf er noch einen Blick zurück auf den Betonkasten, dem niemand je auch nur mit einem Anflug von architektonischem Gestaltungswillen zu nahe getreten war. Und? Wen kümmerte das, außer ein paar Schöngeister? Er war keiner.
Er fühlte sich benommen, fast ein wenig beschämt. Da war
er ausgezogen, die Vergangenheit aufzudecken - er, der Große Ermittler! Aber es gab gar nichts zu ermitteln. Er brauchte nur nachzulesen. Hunderteinundfünfzig Menschen hatten in dem jüdischen Altersheim gelebt, die Bediensteten eingeschlossen, viele von ihnen keineswegs im Greisenalter, sondern noch keine sechzig Jahre alt und nur deshalb ins Altersheim eingewiesen, damit man ihnen ihre Wohnung wegnehmen konnte. Nach drei Jahren wurde das Heim Zug um Zug wieder geräumt, die Bewohner kamen »nach Osten«, wie in der Einwohnerkartei unverblümt vermerkt wurde. Am 16. Juli 1942 verließen die letzten Bewohner Herrlingen, um sechs Wochen später nach Theresienstadt
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