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Beifang

Titel: Beifang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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und die zugefrorenen Pfützen knirschten unter den Tritten. Der Mann ging rasch am Bahnhofsgebäude vorbei, aber das letzte freie Taxi war schon von dem Lodenmantelträger in Beschlag genommen worden. So musste er auf einen Bus warten. Er war nicht allein, auch andere Passagiere, die mit ihm ausgestiegen waren, vertraten sich fröstelnd die Füße an der Haltestelle.
    Das hast du nun von deiner Eile, dachte er, der Zug wäre wenigstens geheizt gewesen. Und überhaupt - was hast du es so eilig? In diese Stadt da drüben zieht es dich nicht zurück. Und der Auftrag, den du übernommen hast - schweigen wir lieber davon! Nun ja, wer sich seine Aufträge aussuchen will, hat bald keine...
     
    Von der Kneipe an der anderen Seite des Bahnhofsvorplatzes näherte sich ein Halbwüchsiger und schnippte seine halb gerauchte Zigarette nach einer lahmenden Taube. Dann verschwand er wieder, gleich darauf kam der Bus. Der Mann stieg als Letzter ein und setzte sich nach hinten, auf einen der erhöhten Plätze.
    Der abendliche Berufsverkehr hatte sich längst aufgelöst, und auf den Gehsteigen waren nur noch einzelne Passanten unterwegs. Der Bus erreichte die Brücke, die über die Donau führt; der Mann reckte den Hals, aber den Fluss sah er nur als ein breites schwarzes Band, halb verdeckt von den Nebelschwaden, die ihm entstiegen. Rechts schien der gläserne Hotelturm des Hotels »Vier Jahreszeiten« über dem Nebel zu schweben, der Stadt enthoben: Eisholm würde dort abgestiegen sein.

    Der Bus kam zu einem Platz, der eigentlich nichts weiter war als eine Haltestelle von Straßenbahn und der sich hier kreuzenden Buslinien. Der Mann blieb bis zur nächsten Station sitzen, dann stieg er aus. Er wartete, bis der Bus weitergefahren war, und blieb noch immer stehen. Vor ihm lag das Justizgebäude, ein Imponierpalast aus wilhelminischen Zeiten, und doch fühlte der Mann eine seltsame Vertrautheit. Er hätte jeden Einzelnen der Verhandlungssäle beschreiben können, und jeder hatte in seiner Erinnerung seine ihm eigentümliche Atmosphäre, sogar seinen eigenen Geruch (der notorische Mief von Saal 113, sobald dort auch nur länger als eine Stunde nicht gelüftet wurde!), und jeder Saal war voll der Geschichten vom Scheitern, vom Misslingen und vom alltäglichen Unglück. Und manchmal auch davon, wie das Böse in ein Leben einbricht und es zerstört. Das Böse? Merkwürdig, dachte der Mann. Die Menschen wissen im Grunde noch immer nichts darüber, und doch ist es Teil ihrer Natur.
    Er lüftete seinen Hut und fuhr sich über die Stirn. Dann überquerte er die Straße, ging rechts am Justizgebäude vorbei und weiter die Gasse hinauf, die zu seinem Hotel führte. In Tonios Café brannte noch Licht, aus den Augenwinkeln sah er die Silhouette eines Mannes, der so dick war, dass er den Barhocker ein gutes Stück vom Tresen hatte wegrücken müssen. Für einen Augenblick überkam ihn die Empfindung, dieser Mann sei schon immer dort gesessen und würde dort bleiben bis ans Ende aller Tage.
    Er aber wollte erst einmal sein Zimmer sehen und sein weniges Gepäck unterbringen, vielleicht auch duschen. Das Hotel lag links von der Gasse, es war ein altes Haus und konsequent altmodisch zugleich, man hätte es als Gegenbeispiel zum »Vier Jahreszeiten« nehmen können. Die junge Frau, die auf sein Klingeln hin an der Rezeption erschien, kannte er freilich nicht. Sie war eine Osteuropäerin, und aus irgendeinem Grund schien sie Misstrauen gegen ihn zu hegen oder gegen Hotelgäste im Allgemeinen.
    »Für mich sollte ein Zimmer reserviert sein«, sagte der Mann
und legte Hut und Handschuhe ab. »Berndorf ist mein Name, Hans Berndorf.«
     
     
     
    Im Nebel«, wiederholte der Lokführer, der auf der anderen Seite des Schreibtisches saß, nach vorne gebeugt, die Hände im Schoß gefaltet, »im Nebel fährst du wie durch einen Tunnel, und die Tunnelwand ist ganz nah. Und trotzdem...« Noch immer hatte er diese flache Stimme, die so klang, als schwinge in ihr nichts mehr mit, keine Erregung, keine Emotion.
    »Und trotzdem?«, wiederholte Kuttler fragend.
    »Trotzdem hab ich die ganze Zeit gewusst, dass es passiert. Der Bahnsteig war leer, ein elendig langer leerer Bahnsteig und nichts und niemand sonst, nur dieser Tunnel im Nebel, und insgeheim hab ich gewusst, dass am Ende dieser Mann steht, glauben Sie mir das? Und da kam er auch schon aus dem Dunkel, es hat mich nicht einmal gewundert, auch nicht, dass er irgendwie krumm aussah, den Oberkörper nach hinten

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