Beifang
ist das nichts, was erst vorgestern oder vor drei Wochen geknüpft worden wäre.« Entschlossen biss er ein kräftiges Stück vom Butterbrot ab.
Richter Michael Veesendonk ging zum Fenster und öffnete es, um den Geruch nach Bodenpflege und Akten durch einen Stoß frischer kalter Winterluft zu vertreiben. Dann erst hängte er seinen Mantel in den Garderobenschrank, öffnete seine Aktentasche und holte die Schriftstücke heraus, die er gestern Abend zuhause durchgearbeitet hatte. Für einen kurzen Moment stellte er sich ans Fenster, um noch einmal durchzuatmen, auch wenn von draußen vor allem die Abluft einer der städtischen Hauptverkehrsstraßen hereinströmte.
Es klopfte, er runzelte die Stirn, rief aber, nicht allzu freundlich: »Ja, bitte!?« Für die Dienstpost war es noch zu früh, und eigentlich sollten seine Kollegen wissen, dass er sich zu dieser Zeit ungern stören ließ. Die Türe öffnete sich, und Kuttler betrat - etwas zögernd, fast verlegen - das Dienstzimmer.
»Der Herr Kuttler!« Veesendonk schloss das Fenster. »Was verschafft mir die Ehre - so früh am Tag?«
»Sie wohnen doch in Blaubeuren?«
»Bitte?« Veesendonk drehte sich zu ihm um. »Gewiss doch wohne ich in Blaubeuren, Bachstelzenweg... Aber wollen Sie sich nicht setzen?« Er wies auf den Stuhl für die Besucher und setzte sich selbst hinter seinen Schreibtisch. Auch Kuttler nahm Platz.
»Sicherlich haben Sie einen Grund für Ihre Frage.«
Veesendonk sah ihn aufmerksam an, die Ellbogen auf dem Schreibtisch aufgestützt und die Hände an den Fingerspitzen zusammengelegt.
»Wir wissen noch immer nicht«, sagte Kuttler, »warum Rechtsanwalt Eisholm nach dem Gespräch mit Ihnen zum Hauptbahnhof gegangen ist. Wir wissen nur, dass er gegen neunzehn Uhr zwölf auf Gleis sechs von einem Güterzug überrollt worden ist.« Er warf einen Blick in das Notizbuch, das er aufgeschlagen in der Hand hielt. »Am gleichen Bahnsteig, auf dem gleichen Gleis, fährt um neunzehn Uhr sechsundzwanzig der Regionalzug nach Sigmaringen ab...« Kuttler hielt inne und sah zu Veesendonk, so, als solle dieser den Satz weiterführen.
»Ich verstehe«, sagte Veesendonk nach einer kurzen Pause. »Der Zug nach Sigmaringen hält fahrplanmäßig in Blaubeuren, also stellt sich Ihnen die Frage, ob ich vorgestern vielleicht mit dem Zug nach Hause gefahren bin und mich deshalb von Eisholm zum Hauptbahnhof und zu Gleis sechs habe begleiten lassen. Richtig?«
Kuttler nickte.
»Ich verstehe, dass Sie das fragen müssen«, fuhr Veesendonk fort. »Und ich bin fast ärgerlich, dass ich das nicht sofort von mir aus angesprochen habe. Aber ich hatte mir einfach nicht vergegenwärtigt, welcher Bahnsteig es war, von dem aus Eisholm in den Tod gestürzt ist... Wie auch immer: Der Landgerichtspräsident ist so freundlich gewesen, mir einen unserer wenigen Behördenparkplätze hinterm Haus anzuweisen. Deswegen kann ich mir den Luxus leisten, nicht auf den unzuverlässigen und wenig komfortablen Service der Deutschen Bahn angewiesen zu sein. Ich komme grundsätzlich mit meinem eigenen Wagen hierher...« - er nannte das Kennzeichen - »so dass ich mich
schon deshalb von Eisholm weder zum Hauptbahnhof habe begleiten lassen noch ihn dort vor den Zug habe stoßen können.« Er hob ganz leicht die Augenbrauen, so, als ob er ein wenig belustigt sei.
Kuttler nickte. »In der Zeit zwischen achtzehn Uhr dreißig und nach zwanzig Uhr - als Sie Staatsanwalt Desarts angerufen haben -, haben Sie da noch andere Telefonate geführt oder sonst mit jemandem gesprochen?«
Veesendonk hob entschuldigend beide Hände. »Ich habe hier an meinem Schreibtisch gesessen und meine Notizen durchgesehen - sagte ich Ihnen das nicht schon? Und irgendwann habe ich versucht, Desarts anzurufen.« Er griff zum Telefonhörer und gab eine Kurzwahl ein.
»Ja, hier Veesendonk«, sagte er, als sich der Teilnehmer meldete, »können Sie bitte feststellen, welche Telefonate gestern nach achtzehn Uhr von meinem Apparat aus geführt worden sind?... Und auch die Anrufe, bei denen sich der Teilnehmer nicht gemeldet hat?... Gut, dann schicke ich Ihnen jetzt den Kriminalbeamten Kuttler vorbei, dem machen Sie bitte einen Ausdruck der Anrufliste!«
Zwanzig Minuten später verließ Kuttler das Justizgebäude durch den rückwärtigen, zum Frauengraben führenden Eingang. Auf abgesperrten Parkplätzen standen typische Beamtenfahrzeuge: untere Mittelklasse, die meisten schon ein paar Jahre alt, aber alle in Maßen
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