Beim ersten Om wird alles anders
verschwunden. Offenbar fehlte im benachbarten Übungsraum eines, und ich bin ja nur ein Mann.
Mit deutlich leichterem Schritt als die Yoga-Lehrerin betritt die Schriftstellerin und Kursleiterin den Raum. Sie stellt sich vor, indem sie mitteilt, wie viele Bücher in wie wenigen Jahren sie bereits geschrieben hat. Sie kokettiert damit, dass sie in der Öffentlichkeit immer wieder als „Bestsellerautorin“bezeichnet würde. Als Verlagsmitarbeiter weiß ich, dass jeder Autor, der auch nur einmal unter die Top 50 einer wöchentlichen Verkaufsliste kommt, sich mit diesem Prädikat schmücken darf. Das behalte ich aber wohlweislich für mich. Unter all ihren Büchern habe ich von genau einem schon einmal gehört und zur Vorbereitung des Kurses auch ein wenig darin gelesen. Es ist wirklich witzig. Es handelt von ihr und ihrem persönlichen Zugang zu Yoga. Keine schlechte Buchidee, denke ich mir dabei. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Jedenfalls liefert es ihr die Rechtfertigung, hier als Expertin vor uns Laien zu stehen. Wobei sie nicht steht, sondern bequem sitzt wie alle hier, oder zumindest der Teil der Gruppe, dem nicht das Yoga-Kissen entzogen wurde.
Sitzend also erläutert sie, wie sie Autorin wurde. Jahrelang hat sie nur für sich geschrieben, dann hat sie Verlage gesucht und sich nur Absagen eingehandelt, in denen ihr literarisches Talent offenbar derart in Zweifel gezogen
wurde, dass sie noch viele Jahre später aus den längst historisch gewordenen Ablehnungsschreiben zitiert. Da war die Rede davon, dass sie leider überhaupt kein Talent habe, nicht schreiben könne, es sich keinesfalls um Literatur handle. Irgendwann hat sie dann im Selbstverlag veröffentlicht, und schließlich wurde sie erfolgreich.
Aus dieser persönlichen Erfahrung hat sie dann für sich den Schluss gezogen, dass man schreiben nicht lernen kann und nicht lernen muss. Jeder kann schreiben, so meint die Autorin. Ein Tag in meinem oder in einem beliebigen anderen Verlag in der Abteilung für „unverlangt eingesandte Manuskripte“sagt einem zwar das Gegenteil, ein Blick in die Runde aber zeigt, dass diese These bei den anderen Kursteilnehmerinnen ankommt. Offenbar alles verkannte Bestsellerautorinnen, deren Durchbruch nur durch die Verkettung unglücklichster Umstände bislang noch auf sich warten lässt. Die Autorin führt ihre These „Jede/r kann schreiben“noch weiter. Nicht nur jede kann, jede muss schreiben. Der Gedanke an all die ungeschriebenen Geschichten macht sie ganz unruhig. Man kann demnach auch gar nicht nicht schreiben.
Dieser Erkenntnis folgt die erste praktische Übung. Dazu setzen wir uns alle in einen Kreis, ergreifen Papier und Stift und warten begierig auf die weiteren Anweisungen der Meisterin. Die erste lautet auch folgerichtig, dass sie uns die Angst vor dem ersten Satz nehmen will. Denn erste Sätze sind völlig unwichtig, man muss nur anfangen zu schreiben, der Rest kommt dann von ganz alleine. Zu diesem Zweck soll jeder für sich, („nicht denken, schreiben“) den Satz zu Ende schreiben, der mit den vorgegebenen Worten beginnt „Es war einmal …“
27 meist zierliche Frauenhände und eine durch monatelanges Yoga sanft gewordene Männerhand schreiben also wie gewünscht „Es war einmal …“. Mein Satz lautet
weiter: „… ein Mann, der sich daran gewöhnt hatte, das auszuführen, was ihm die Frauen aufgaben. Und das kam so …“Gerade als ich ins Detail gehen will, ist der erste Zeitabschnitt um und ich muss meinen Zettel zu meiner Nebensitzerin nach links weiterreichen. Was die aus meinem Anfangssatz macht, weiß ich nicht, ich muss mich mit dem Anfangsteil der rechten Nebensitzerin befassen. Dort lese ich: „Es war einmal eine Frau, die war sehr unglücklich, weil ihr Mann ihr gesagt hatte …“Ich ergänze dies: „… dass sie definitiv kein Schreibtalent habe. Die Zeit, die sie dafür aufwendete, solle sie doch lieber dafür nutzen, wenigstens richtig Yoga zu lernen.“Und schon wieder ist ein Abschnitt um.Weg mit dem Blatt nach links und unbeteiligt schauen. Ich soll das geschrieben haben? Kann nicht wahr sein. So geht das noch sechs Mal, bis jeder von uns ein Blatt vor sich liegen hat, auf dem ein wüstes Durcheinander von acht Ideen und acht Schriftarten herrscht.
Die Autorin sammelt alle Blätter ein und liest von Dreien vor. Eine der Patchworkstorys beginnt mit der Sequenz: „Es war einmal eine Frau, die zaubern wollte. Sie suchte überall auf der Welt, in allen Büchern, doch sie fand
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