Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
ganze Weile dort stehen und schnitt Grimassen, und kein Mensch störte sich daran. Schließlich stellte ich mich mitten auf eine große Kreuzung. Taxis hupten wütend, und ein Auto konnte mir nur knapp ausweichen, dann kamen zwei Cops angerannt, um mich zu retten. Als mein Dad mich von der Polizeiwache abholte, wollte er wissen, was in aller Welt ich mir bloß dabei gedacht hätte.
    Ich hatte gar nichts gedacht, ich wollte eigentlich nur irgendwohin, wo ich beachtet werden würde.
    Zuerst zieh ich mein T-Shirt aus und tauche es in eine Pfütze am Straßenrand, dann wickele ich es mir um Kopf und Gesicht. Der Rauch wallt bereits auf, wütende schwarze Wolken. In der Ferne höre ich Sirenen. Aber ich habe Dan etwas versprochen.
    Die Hitze trifft mich wie eine Wand, die solider ist, als sie aussieht. Das Gerippe des Schuppens zeichnet sich deutlich ab, eine orangerote Röntgenaufnahme. Drinnen kann ich keinen halben Meter weit sehen.
    Â»Ratte«, brülle ich, schon jetzt mit rauher und heiserer Kehle vom vielen Rauch. »Ratte!«
    Keine Antwort. Ich gehe auf alle viere, taste mich vorwärts.
    Richtig unangenehm wird es erst, als ich meine Hand auf etwas Metallenes lege, das in der Hitze glühendheiß geworden ist. Meine Haut bleibt daran kleben, wirft sofort Blasen. Als ich schließlich einen beschuhten Fuß spüre, schluchze ich auf, sicher, daß ich hier nie wieder rauskomme. Ich taste mich an Ratte hoch, richte mich auf und hieve seinen schlaffen Körper über meine Schulter. Dann taumele ich den Weg zurück, den ich gekommen bin.
    Durch eine Laune Gottes schaffen wir es nach draußen. Die Löschzüge treffen bereits ein. Vielleicht ist mein Vater dabei. Ich bleibe im Schutz des Rauches und lege Ratte auf der Erde ab. Dann laufe ich in die andere Richtung, überlasse den Rest den Leuten, die schließlich Helden sein wollen.
    ANNA
    Habt ihr euch schon mal gefragt, wie wir alle hierhergekommen sind? Auf die Erde, meine ich. Vergeßt das Märchen von Adam und Eva, alles Quatsch. Meinem Vater gefällt die Legende, die sich die Pawnee-Indianer erzählen. Für sie haben die Sterngötter die Erde bevölkert: Abend- und Morgenstern haben geheiratet und ein Mädchen bekommen, das erste weibliche Wesen. Der erste Junge stammte von der Sonne und dem Mond ab. Menschen kamen auf dem Rücken eines Tornados angeritten.
    Mr. Hume, mein Biolehrer, hat uns von dieser Ursuppe aus natürlichen Gasen und Schleim und Kohlenstoff erzählt, die sich dann irgendwie zu einzelligen Organismen verdickt hat, die Choanoflagellaten heißen … was sich für mich eher nach einer Geschlechtskrankheit anhört als nach dem Anfang der Evolutionskette. Doch selbst wenn man das glaubt, ist es immer noch ein riesiger Sprung von einer Amöbe bis zu einem Affen und von da bis zu einem denkenden Menschen.
    Jedenfalls, ganz gleich, was man glaubt, total erstaunlich an dem ganzen Kram finde ich, daß verdammt viel passieren mußte, um von einem Punkt, an dem es nichts gab, zu einem Punkt zu kommen, an dem lauter fein aufeinander abgestimmte Neuronen feuern und knallen, damit wir Entscheidungen treffen können.
    Und noch erstaunlicher finde ich, daß wir Menschen es schaffen, ständig Mist zu bauen.
    Am Samstagmorgen bin ich mit Kate und meiner Mutter im Krankenhaus, und wir tun alle so, als würde meine Anhörung nicht in zwei Tagen beginnen. Ihr denkt vielleicht, das wäre schwer, aber nein, es ist wesentlich leichter als die Alternative. In unserer Familie sind wir alle Weltmeister darin, uns selbst etwas vorzumachen: Wenn wir nicht drüber sprechen, dann gibt es – schwups! – kein Verfahren, kein Nierenversagen, keine Sorgen mehr.
    Ich sehe mir die Serie ›Happy Days‹ im Fernsehen an. Diese Cunninghams sind auch nicht viel anders als wir. Sie haben nämlich anscheinend keine größeren Probleme als die, ob Richies Band noch von Als Kneipe engagiert wird oder ob Fonzie den Kußwettbewerb gewinnt, wo doch selbst ich weiß, daß in den fünfziger Jahren Joanie wahrscheinlich Luftschutzübungen in der Schule hatte und Marion vermutlich auf Valium war und Howard eine Scheißangst vor Angriffen der Kommunisten hatte. Wenn man sein Leben lang so tut, als würde man in einer Filmkulisse leben, muß man sich vielleicht nie eingestehen, daß die Wände aus Pappe bestehen und das Essen aus Plastik ist und die

Weitere Kostenlose Bücher