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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Worte in deinem Mund gar nicht deine sind.
    Kate macht ein Kreuzworträtsel. »Gefäß mit vier Buchstaben«, sagt sie.
    Heute ist ein guter Tag. Damit meine ich, daß sie sich sogar in der Lage fühlt, mich anzuschreien, weil ich mir von ihr zwei CDs geborgt hatte, ohne zu fragen (Meine Güte, sie lag praktisch im Koma, wie hätte sie mir da die Erlaubnis geben können). Und sie fühlt sich in der Lage, ein Kreuzworträtsel zu machen.
    Â»Tasse«, schlage ich vor.
    Â» Vier Buchstaben.«
    Â»Glas«, sagt meine Mutter.
    Â»Blut«, sagt Dr. Chance, der ins Zimmer kommt.
    Â» Gefäß «, erwidert Kate, aber in einem deutlich freundlicheren Tonfall als mir gegenüber.
    Wir alle mögen Dr. Chance inzwischen, ein bißchen so, als würde er zur Familie gehören.
    Â»Sag mir eine Zahl.« Er meint auf der Schmerzskala von eins bis zehn. »Fünf?«
    Â»Drei.«
    Dr. Chance setzt sich auf die Bettkante. »In einer Stunde könnte es fünf sein«, sagt er vorsichtig. »Vielleicht sogar neun.«
    Das Gesicht meiner Mutter hat die Farbe einer Aubergine angenommen. »Aber Kate fühlt sich doch im Augenblick prima!« sagt sie betont optimistisch.
    Â»Ich weiß. Aber die klaren Augenblicke werden kürzer werden und die Abstände dazwischen größer«, erklärt Dr. Chance. »Nicht wegen APL. Sondern weil die Nieren versagen.«
    Â»Aber nach einer Transplantation –«, sagt meine Mutter.
    Die ganze Luft im Raum, Ehrenwort, verwandelt sich in einen Schwamm. Man würde ein Staubkorn fallen hören können, so still wird es. Ich würde mich am liebsten davonstehlen wie Nebel. Ich will nicht, daß ich daran Schuld bin.
    Dr. Chance hat als einziger den Mut, mich anzublicken. »Soviel ich weiß, Sara, ist es strittig, ob ein Spenderorgan zur Verfügung steht.«
    Â»Aber –«
    Â»Mom«, unterbricht Kate sie. Sie wendet sich an Dr. Chance. »Wie viel Zeit haben wir noch?«
    Â»Eine Woche vielleicht.«
    Â»Oh«, sagt sie leise. »Oh.« Sie berührt den Rand der Zeitung, fährt mit dem Daumen über die spitze Ecke. »Wird es weh tun?«
    Â»Nein«, verspricht Dr. Chance. »Dafür sorge ich.«
    Kate legt sich die Zeitung auf den Schoß und berührt seinen Arm. »Danke. Für die Wahrheit, meine ich.«
    Als Dr. Chance aufblickt, sind seine Augen gerötet. »Bedank dich nicht bei mir.« Er steht so schwerfällig auf, als wäre er aus Stein, und verläßt den Raum ohne ein weiteres Wort.
    Meine Mutter fällt in sich zusammen, anders läßt es sich nicht beschreiben. Wie Papier, wenn du es tief ins Feuer drückst und es einfach irgendwie verschwindet.
    Kate blickt mich an, dann nach unten auf die vielen Schläuche, die sie ans Bett fesseln. Also stehe ich auf und gehe zu meiner Mutter. Ich lege ihr eine Hand auf die Schulter. »Mom«, sage ich. »Hör auf.«
    Sie hebt den Kopf und blickt mich aus gehetzten Augen an. »Nein, Anna. Hör du auf.«
    Ich brauche einen Moment, aber dann reiße ich mich los. » Anna «, murmele ich.
    Meine Mutter blickt verdutzt. »Was?«
    Â»Gefäß mit vier Buchstaben«, sage ich und verlasse Kates Zimmer.
    Später am selben Nachmittag sitze ich im Büro meines Vaters auf der Wache und kreise auf dem Drehsessel von einer Seite zur anderen. Julia sitzt mir gegenüber. Auf dem Schreibtisch stehen ein halbes Dutzend Fotos von meiner Familie. Auf einem ist Kate als Baby zu sehen, mit einer Strickmütze, die aussieht wie eine Erdbeere. Auf einem anderen grinsen Jesse und ich über beide Ohren und halten stolz einen Blaufisch in die Kamera. Früher hab ich mich immer über die gestellten Fotos gewundert, die man gerahmt im Laden kaufen kann – Frauen mit glatten, braunen Haaren und künstlichem Lächeln, Babys mit runden Köpfen auf den Knien einer Schwester – Leute, die sich im wahren Leben wahrscheinlich gar nicht kennen und die irgendein Fotograf zu einer falschen Familie zusammengestellt hat.
    Vielleicht ist der Unterschied zu echten Fotos ja gar nicht so groß.
    Ich nehme ein Foto, auf dem meine Mutter und mein Vater sonnengebräunt und jünger aussehen, als sie meiner Erinnerung nach je waren. »Haben Sie einen Freund?« frage ich Julia.
    Â»Nein!« sagt sie, viel zu schnell. Als ich aufblicke, zuckt sie halbherzig mit den

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