Beim Leben meiner Schwester
»Worauf wollen Sie hinaus, Mrs. Fitzgerald?«
Wir waren ohne bestimmtes Ziel losgefahren, und da, wo wir schlieÃlich landeten, war es schrecklich, aber ich hätte diese Woche dennoch um nichts in der Welt missen wollen. »Wenn Kate nicht krank war«, sagt Brian langsam, vorsichtig, »hatten wir viele schöne Erlebnisse.«
»Meinst du nicht, daà Anna das vermissen würde, wenn Kate nicht mehr bei uns wäre?«
Campbell schnellt von seinem Stuhl hoch, genau wie ich erwartet habe. »Einspruch!«
Der Richter hebt eine Hand und nickt Brian auffordernd zu, die Frage zu beantworten.
»Das wird uns allen so gehen«, sagt er.
Und in dem Augenblick passiert etwas Seltsames. Brian und ich, die wir uns gegenüberstehen, an entgegengesetzten Polen, springen plötzlich um, wie Magneten das manchmal machen, und statt uns gegenseitig wegzustoÃen, scheinen wir auf einmal auf derselben Seite zu stehen. Plötzlich spielt es keine Rolle, daà er mit Anna ausgezogen ist und daà er einige Entscheidungen über Kate in Frage gestellt hat. Er hat das getan, was er für richtig hielt, genau wie ich, und das kann ich ihm nicht vorwerfen.
Wenn wir Kate heute verlieren, haben wir sie sechzehn Jahre lang gehabt, und die kann uns keiner wegnehmen. Und in vielen, vielen Jahren, wenn es mir schwerfällt, mich an ihr lachendes Gesicht zu erinnern oder an das Gefühl ihrer Hand in meiner oder an den schönen Klang ihrer Stimme, werde ich Brian haben, der mir sagt, WeiÃt du nicht mehr? Das war so .
Die Stimme des Richters dringt in meine Gedanken. »Mrs. Fitzgerald, sind Sie fertig?«
Es hat für mich nie die Notwendigkeit bestanden, Brian ins Kreuzverhör zu nehmen. Ich wuÃte, was er antworten würde. Was ich vergessen habe, sind die Fragen.
»Fast.« Ich wende mich meinem Mann zu. »Brian?« frage ich. »Wann kommst du nach Hause?«
Im Untergeschoà des Gerichtsgebäudes befindet sich auch eine Reihe von SüÃigkeitenautomaten, von denen keiner etwas anbietet, das man verzehren sollte. Nachdem Richter DeSalvo eine Pause angeordnet hat, gehe ich nach unten und starre auf all die klebrigen Riegel und Drops, die in ihren Spiralzellen gefangen gehalten werden.
»Die Schokoladenkekse sind noch das Beste«, sagt Brian hinter mir. Ich drehe mich um und sehe, daà er fünfundsiebzig Cents in den Geldschlitz wirft. »Schlicht. Ein Klassiker unter den Keksen.« Er drückt zwei Knöpfe, und die Packung stürzt sich in den Auswurfschacht.
Er führt mich zu einem Tisch, den Menschen mit ihren Initialen verkratzt oder ihren geheimsten Gedanken vollgeschmiert haben. »Als du vor mir im Zeugenstand warst, wuÃte ich nicht, was ich sagen soll«, gestehe ich und zögere dann. »Brian? Meinst du, wir sind gute Eltern?« Ich denke an Jesse, bei dem ich schon vor langer Zeit kapituliert habe. An Kate, die ich nicht heilen konnte. An Anna.
»Ich weià nicht«, sagt Brian. »Gibt es überhaupt welche?«
Er hält mir die Kekspackung hin. Als ich den Mund öffne, um ihm zu sagen, daà ich keinen Hunger habe, schiebt Brian einen Keks hinein. Er fühlt sich satt und rauh auf der Zunge an, und plötzlich bin ich wie ausgehungert. Brian wischt mir die Krümel von den Lippen, als wäre ich aus zerbrechlichem Porzellan. Ich lasse ihn. Ich glaube, ich habe noch nie so etwas SüÃes gekostet.
An dem Abend kommen Brian und Anna beide zurück nach Hause. Wir bringen Anna gemeinsam ins Bett. Wir geben ihr beide einen KuÃ. Brian geht duschen. Gleich werde ich ins Krankenhaus fahren, aber jetzt setze ich mich Anna gegenüber auf Kates Bett. »Hältst du mir jetzt einen Vortrag?« fragt sie.
»Nicht, wie du denkst.« Ich befingere den Rand von Kates Kopfkissen. »Du bist kein schlechter Mensch, weil du du selbst sein willst.«
»Ich hab nie â«
Ich hebe eine Hand. »Ich will nur sagen, daà diese Gedanken einfach menschlich sind. Und bloà weil du anders geworden bist, als alle sich das vorgestellt haben, bedeutet das noch lange nicht, daà du irgendwie versagt hast. Ein Kind, das in der einen Schule nur gehänselt wird, kann zum Beispiel auf eine andere Schule wechseln und ist plötzlich bei allen beliebt. Oder jemand, der Medizin studiert, bloà weil in seiner Familie lauter Ãrzte sind, merkt vielleicht irgendwann, daà er eigentlich Künstler werden
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