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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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fließt mir alles Blut aus dem Körper. Ich könnte mich nicht rühren, wenn ich wollte.
    Â»Aber was … Vern, werde ich verklagt?« Die Stimme meiner Mutter ist viel zu ruhig.
    Â»Sara, ich öffne die Kuverts nicht. Ich überbringe sie nur. Und Ihr Name steht vorne drauf. Also, wenn ich, äh, irgendwas –« Er beendet den Satz nicht. Mit dem Hut in den Händen zieht er sich durch die Tür zurück.
    Â»Mom?« sagt Kate. »Was ist denn los?«
    Â»Ich habe keine Ahnung.« Sie öffnet das Kuvert und nimmt ein Blatt Papier heraus. Ich stehe neben ihr und kann einen Blick darauf werfen. BUNDESSTAAT RHODE ISLAND, lese ich quer über der Seite. Dann FAMILIENGERICHT PROVIDENCE. IN SACHEN: ANNA FITZGERALD.
    ANTRAG AUF ENTLASSUNG AUS DER ELTERLICHEN GEWALT IN MEDIZINISCHEN FRAGEN.
    Ach du Schande, denke ich. Meine Wangen brennen, mein Herz klopft wie wild. Ich fühle mich wie damals in der Schule, als die Schulleiterin meinen Eltern einen Brief geschrieben hatte, weil ich in meinem Matheheft eine Karikatur von Mrs. Toohey und ihrem kolossalen Hintern gezeichnet hatte. Nein, stimmt nicht – ich fühle mich zigtausendmal schlimmer.
    Im einzelnen wird beantragt:
    Daß sie das Entscheidungsrecht in allen sie betreffenden medizinischen Belangen erhält .
    Daß sie nicht zu einer medizinischen Behandlung ge zwungen wird, die nicht in ihrem Interesse liegt oder zu ihrem Vorteil gereicht .
    Daß sie nicht mehr zu medizinischen Maßnahmen genö tigt wird, die ihrer Schwester Kate zum Vorteil gereichen .
    Meine Mutter blickt mich an. »Anna«, flüstert sie, »was zum Teufel ist das hier?«
    Es trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube, jetzt wo es tatsächlich passiert. Was soll ich ihr bloß sagen?
    Â»Anna!« Sie macht einen Schritt auf mich zu.
    Hinter ihr schreit Kate plötzlich auf. »Mom, aua, Mom … mir tut was weh, hol den Pfleger!«
    Meine Mutter wendet sich halb ab. Kate hat sich auf die Seite gerollt, die Haare fallen ihr übers Gesicht. Ich glaube, daß sie mich durch sie hindurch anschaut, aber sicher bin ich mir nicht. »Mommy«, stöhnt sie, »bitte.«
    Einen Augenblick ist meine Mutter zwischen uns hin und her gerissen, blickt von Kate zu mir und wieder zurück.
    Meine Schwester hat Schmerzen, und ich bin erleichtert. Was sagt das nun über mich aus?
    Als ich aus dem Zimmer laufe, sehe ich noch, wie meine Mutter immer wieder den Rufknopf drückt, als wäre er der Auslöser für eine Bombe.
    Ich kann mich weder in der Cafeteria noch in der Eingangshalle verstecken, da würden sie mich am ehesten vermuten. Also nehme ich die Treppe in den fünften Stock, Entbindungsstation. Im Wartebereich ist nur ein Telefon, und das wird gerade benutzt: »Sechs Pfund, dreiunddreißig Gramm«, sagt der Mann und lächelt so breit, daß ich denke, sein Gesicht kriegt gleich Risse. »Sie ist einfach vollkommen.«
    Haben meine Eltern auch so reagiert, als ich da war? Hat mein Vater Rauchsignale verschickt? Hat er meine Finger und Zehen gezählt, in der sicheren Gewißheit, daß er die wunderschönste Zahl im Universum herausbekommen würde? Hat meine Mutter mich oben auf den Kopf geküßt und sich geweigert, mich an die Krankenschwester herzugeben, die mich saubermachen wollte? Oder haben sie mich ohne weiteres abgegeben, da sich das einzig wichtige zwischen meinem Bauch und der Plazenta befand?
    Der frischgebackene Vater hängt endlich ein, lacht, ohne ersichtlichen Grund. »Glückwunsch«, sage ich, obwohl ich viel lieber sagen würde, er soll seine kleine Tochter nehmen und sie ganz fest halten, den Mond auf den Rand ihres Bettchens setzen und ihren Namen oben in die Sterne hängen, damit sie ihm nie im Leben das antut, was ich meinen Eltern angetan habe.
    Ich rufe Jesse an. Zwanzig Minuten später fährt sein Wagen vor dem Haupteingang vor. Inzwischen ist Deputy Stackhouse informiert worden, daß ich verschwunden bin. Er wartet an der Tür, als ich herauskomme. »Anna, deine Mutter macht sich furchtbare Sorgen um dich. Sie hat deinen Vater hergeholt. Er läßt das ganze Krankenhaus auf den Kopf stellen.«
    Ich hole tief Luft. »Dann sagen Sie ihr, daß es mir gut geht«, erwidere ich und steige rasch zu Jesse in den Wagen.
    Er fährt los und zündet sich eine Merit an, obwohl ich genau weiß, daß er meiner Mutter erzählt hat, er

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