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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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paar Leute aus der Schule, klar, aber wenn die mal vorbeikommen, sehen sie aus, als würden sie eine Strafe absitzen, wie sie da auf der Kante von Kates Bett hocken und es nicht erwarten können, wieder zu gehen, heilfroh, daß das Schicksal sie verschont hat –
    Eine richtige Freundin ist gar nicht in der Lage, Mitleid mit dir zu haben.
    Â»Ich bin nicht deine Freundin«, sage ich und ziehe den Vorhang wieder zu. »Ich bin deine Schwester.« Und eine verdammt schlechte , denke ich. Ich halte das Gesicht in den Wasserstrahl, damit sie nicht merkt, daß auch ich weine.
    Plötzlich wird der Vorhang zur Seite gerissen und ich stehe ungeschützt vor ihr. »Genau darüber wollte ich mit dir reden«, sagt Kate. »Wenn du nicht mehr meine Schwester sein willst, schön. Aber ich glaube, ich könnte es nicht aushalten, dich als Freundin zu verlieren.«
    Sie zieht den Vorhang wieder zu, und der Dampf umhüllt mich. Gleich darauf höre ich, wie die Tür auf- und zugeht und einen eiskalten Lufthauch zurückläßt.
    Auch ich halte den Gedanken nicht aus, sie zu verlieren.
    Als Kate eingeschlafen ist, krieche ich aus dem Bett und stelle mich neben sie. Als ich ihr die flache Hand unter die Nase halte, um zu überprüfen, ob sie atmet, spüre ich einen Hauch Luft auf der Haut. Ich könnte ihr jetzt auf Nase und Mund drücken, sie festhalten, wenn sie sich wehrt. Wäre das soviel anders als das, was ich bereits mache?
    Ich höre Schritte auf dem Flur und tauche wieder unter meine Bettdecke. Ich drehe mich auf die Seite, weg von der Tür, für den Fall, daß meine Augenlider noch flackern, wenn meine Eltern ins Zimmer kommen.
    Â»Ich kann es einfach nicht fassen«, flüstert meine Mutter. »Ich kann nicht fassen, daß sie das getan hat.«
    Mein Vater ist so leise, daß ich mich frage, ob ich mich vielleicht geirrt habe, ob er überhaupt mitgekommen ist.
    Â»Genau wie Jesse«, fügt meine Mutter hinzu. »Sie tut das, um auf sich aufmerksam zu machen.« Ich spüre ihren Blick auf mir, als wäre ich ein Wesen, das sie noch nie gesehen hat. »Vielleicht sollten wir mal was mit ihr allein unternehmen. Ins Kino gehen oder shoppen, damit sie sich nicht übergangen fühlt. Damit sie sieht, daß sie nicht irgendwas Verrücktes machen muß, damit wir sie wahrnehmen. Was meinst du?«
    Mein Vater läßt sich Zeit mit seiner Antwort. »Na ja«, sagt er leise, »vielleicht ist es ja gar nicht verrückt.«
    Kennt ihr das, daß einem die Stille im Dunkeln gegen die Trommelfelle drückt, einen taub macht? Genau das passiert jetzt, so daß ich die Antwort meiner Mutter fast nicht mitkriege. »Menschenskind, Brian … auf wessen Seite stehst du eigentlich?«
    Und mein Vater: »Wer sagt denn, daß es Seiten gibt.«
    Aber selbst ich könnte die Antwort geben. Es gibt immer Seiten. Es gibt immer einen Sieger und einen Verlierer. Damit einer was bekommen kann, muß ein anderer was geben.
    Sekunden später schließt sich die Tür, und das Flurlicht, das an der Decke getanzt hat, verschwindet. Blinzelnd drehe ich mich auf den Rücken – und sehe, daß meine Mutter an meinem Bett steht. »Ich hab gedacht, du wärst gegangen«, flüstere ich.
    Sie setzt sich ans Fußende meines Bettes, und ich rücke ein Stück zur Seite. Sie umfaßt meine Wade, bevor ich zu weit weg bin. »Was denkst du denn sonst noch, Anna?«
    Mein Magen zieht sich zusammen. »Ich denke … ich denke, du mußt mich hassen.«
    Selbst in der Dunkelheit kann ich ihre Augen schimmern sehen. »Ach, Anna«, seufzt meine Mutter, »du mußt doch wissen, wie lieb ich dich hab.«
    Sie breitet die Arme aus, und ich schmiege mich hinein, als wäre ich wieder ganz klein und würde genau hineinpassen. Ich presse das Gesicht fest an ihre Schulter. Mein allergrößter Wunsch wäre es, die Zeit ein wenig zurückzudrehen. Wieder das Kind zu sein, das ich mal war, wieder daran glauben zu können, daß alles, was meine Mutter sagt, hundertprozentig richtig ist, ohne allzu genau hinzuschauen und die haarfeinen Risse zu sehen.
    Meine Mutter zieht mich noch fester an sich. »Wir reden mit dem Richter und erklären die Sache«, sagt sie. »Wir bringen alles wieder in Ordnung.« Und weil das wirklich die einzigen Worte sind, die ich je hören wollte, nicke ich.
    SARA
    1990 Die

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