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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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erwiderte sie, und ich reichte ihr den roten. Sie kletterte auf den Schreibtisch und probierte aus, ob sie mit der Hand an die Decke kam. »Wenn wir das gemacht haben«, sagte sie, »bleibst du auf deiner Seite, und ich bleib auf meiner, okay?« Ich nickte, ebenso entschlossen wie sie, mich an die Vereinbarung zu halten. Schließlich hatte ich all die guten Spielsachen. Kate würde früher um eine Besuchserlaubnis betteln als umgekehrt.
    Â»Schwörst du?« fragte sie, und wir leckten an zwei Fingern und hielten sie hoch.
    Dann zog sie eine wackelige Linie von der Decke, über den Schreibtisch, über den hellbraunen Teppich und über den Nachttisch an der anderen Wand wieder hoch. Dann reichte sie mir den Markierstift. »Denk dran«, sagte sie. »Wenn du dein Wort brichst, bist du ein Lügner.«
    Ich setzte mich in meiner Hälfte auf den Boden, nahm jede Barbie, die wir besaßen, aus der Kiste, zog sie aus und wieder an, machte einen Riesenwirbel, um zu zeigen, daß ich sie hatte und Kate nicht. Sie hockte mit angezogenen Knien auf ihrem Bett und beobachtete mich. Sie reagierte nicht im geringsten. Das heißt, bis meine Mutter uns zum Essen rief.
    Dann lächelte Kate mich an und spazierte zur Tür hinaus – die auf ihrer Seite war.
    Ich ging bis an die Linie, die sie auf dem Teppich gezogen hatte, trat mit den Zehen darauf. Ich wollte keine Lügnerin sein. Aber ich wollte auch nicht den Rest meines Lebens in meinem Zimmer bleiben.
    Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis meine Mutter sich fragte, warum ich nicht runter in die Küche kam, aber mit fünf kommt einem manchmal eine Sekunde wie eine Ewigkeit vor. Sie blieb in der Tür stehen, starrte auf den Strich an den Wänden und auf dem Teppich und schloß die Augen, um die Ruhe zu bewahren. Sie marschierte in unser Zimmer und hob mich hoch. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen. »Nicht«, schrie ich. »Dann darf ich nie wieder zurück!«
    Sie verschwand und kam kurz darauf mit Topflappen, Geschirrtüchern und Couchkissen wieder. Sie verteilte alles in unregelmäßigen Abständen in Kates Hälfte auf dem Boden. »Komm schon«, drängte sie, aber ich rührte mich nicht. Dann kam sie zu mir und setzte sich neben mich auf mein Bett. »Das mag ja Kates Teich sein«, sagte sie, »aber das da sind meine Lilien.« Sie stand auf und sprang auf ein Geschirrtuch und weiter auf ein Kissen. Sie blickte über die Schulter, und ich trat auf das Geschirrtuch. Von dort auf das Kissen, auf einen Topflappen, den Jesse in der ersten Klasse gemacht hatte, bis ganz durch Kates Zimmerhälfte hindurch. Meiner Mutter Schritt für Schritt zu folgen, war der sicherste Ausweg.
    Ich stehe unter der Dusche, als Kate das Schloß auffummelt und ins Badezimmer kommt. »Ich möchte mit dir reden«, sagt sie.
    Ich stecke den Kopf am Plastikvorhang vorbei. »Wenn ich fertig bin«, sage ich, um Zeit bis zu dem Gespräch rauszuschinden, das ich gar nicht führen will.
    Â»Nein, jetzt.« Sie setzt sich auf den Klodeckel und seufzt. »Anna … was du da machst –«
    Â»Es ist bereits geschehen«, sage ich.
    Â»Aber du kannst es ungeschehen machen, wenn du willst.«
    Ich bin dankbar für den vielen Dampf zwischen uns, weil ich in diesem Augenblick den Gedanken unerträglich finde, daß sie mein Gesicht sehen könnte. »Ich weiß«, flüstere ich.
    Eine ganze Weile schweigt Kate. Ihre Gedanken drehen sich im Kreis, ihr Kopf ist ein Hamsterrad, genau wie meiner. Du jagst über die Sprossen, ohne irgendwo anzukommen.
    Schließlich spähe ich wieder aus der Dusche hervor. Kate wischt sich über die Augen und schaut zu mir hoch. »Weißt du eigentlich«, sagt sie, »daß du die einzige Freundin bist, die ich habe?«
    Â»Das stimmt nicht«, entgegne ich sogleich, aber wir wissen beide, daß ich lüge. Kate hat so oft und so lange in der Schule gefehlt, daß sie keine festen Freunde gefunden hat. Die meisten, mit denen sie sich im Laufe ihrer langen Remissionsphase angefreundet hat, haben sich von ihr zurückgezogen. Es ist nicht leicht für durchschnittliche Jugendliche, mit jemandem umzugehen, der todkrank ist. Und umgekehrt fällt es Kate schwer, sich auf Schulbälle zu freuen und wegen Abschlußklausuren aufgeregt zu sein, wenn sie nicht mal weiß, ob sie das alles noch erleben wird. Sie kennt ein

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