Beim Leben meiner Schwester
»Sara. Lange nichts gehört.«
Sie ist der Mensch, zu dem ich gelaufen bin, als ich meine erste Periode bekam, der mir geholfen hat, mein erstes gebrochenes Herz wieder zu flicken; es war ihre Hand, nach der ich mitten in der Nacht gegriffen habe, wenn ich mich nicht mehr erinnern konnte, auf welcher Seite unser Vater den Scheitel hatte oder wie das Lachen unserer Mutter klang. Egal, was sie jetzt ist, früher war sie meine verläÃliche beste Freundin.
»Zanne?« sage ich. »Wie geht es dir?«
SechsunddreiÃig Stunden nach Kates offizieller APL-Diagnose haben Brian und ich Gelegenheit, Fragen zu stellen. Kate bastelt zusammen mit einer Betreuerin mit Glitzerkleber, während wir mit einem Team aus Ãrzten, Krankenschwestern und Psychiatern sprechen. Die Krankenschwestern, das habe ich bereits festgestellt, sind diejenigen, die uns sagen, was wir dringend wissen wollen. Anders als die Ãrzte, die herumzappeln, als wären sie lieber woanders, beantworten die Krankenschwestern unsere Fragen mit einer Geduld, als wären wir das erste Elternpaar, mit denen sie sprechen.
»Bei Leukämie«, sagt eine Krankenschwester, »haben wir die Nadel für die erste Behandlung noch nicht mal eingeführt, da denken wir schon drei Behandlungen weiter. Diese spezielle Erkrankung hat eine ziemlich schlechte Prognose, daher müssen wir stets vorausdenken, was als nächstes passiert. APL ist insofern noch etwas heikler, als es eine chemoresistente Krankheit ist.«
»Was heiÃt das?« fragt Brian.
»Bei einer myelogenen Leukämie gelingt es im Normalfall, solange die Organe mitspielen, den Patienten nach jedem Rückfall erneut in Remission zu bringen. Der Körper wird zwar entkräftet, aber er reagiert immer wieder auf die Behandlung. Bei APL ist das anders. Sobald eine Therapie erfolgt ist, wirkt sie kein zweites Mal. Und bislang sind unsere Behandlungsmöglichkeiten eingeschränkt.«
»Wollen Sie damit sagen â« Brian schluckt. »Wollen Sie damit sagen, sie wird sterben?«
»Ich will damit sagen, daà es keine Garantien gibt.«
»Wie gehen Sie also vor?«
Eine andere Krankenschwester antwortet. »Ihre Tochter wird eine Woche lang Chemotherapie bekommen. Wir hoffen, dadurch die kranken Zellen vernichten zu können und Kate in Remission zu bringen. Sie wird sehr wahrscheinlich unter Ãbelkeit leiden, und sie wird sich übergeben müssen. Um das zu lindern, geben wir ihr Antiemetika. Ihr werden die Haare ausfallen.«
Ein kleiner Schrei entfährt mir, als ich das höre. Es ist nur eine Kleinigkeit, und doch ist es das Signal, das allen zeigen wird, was mit Kate los ist. Vor gerade mal sechs Wochen hat sie ihren ersten Haarschnitt bekommen. Die goldenen Ringellöckchen rollten bei SuperCuts wie Münzen über den Boden.
»Es kann auch sein, daà sie Durchfall bekommt. Und da ihr Immunsystem geschwächt ist, besteht ein groÃes Risiko, daà sie eine Infektion bekommt, die einen stationären Aufenthalt erforderlich macht. Die Chemo kann auch Wachstumsverzögerungen zur Folge haben. Sie erhält natürlich eine weitere Chemotherapie zur Konsolidierung, etwa zwei Wochen danach, und dann noch einige Zyklen Erhaltungstherapie. Die genaue Anzahl hängt von den Ergebnissen der Knochenmarkspunktionen ab, die wir regelmäÃig machen werden.«
»Und dann?« fragt Brian.
»Dann beobachten wir sie«, erwidert Dr. Chance. »Bei APL muà man ganz genau auf Anzeichen für einen Rückfall achten. Bei Blutergüssen, Fieber, Husten oder einer Infektion müssen Sie sofort mit ihr ins Krankenhaus. Und was die weitere Behandlung betrifft, gibt es einige Möglichkeiten. Im Endeffekt geht es darum, Kates Körper dazu zu bringen, gesundes Knochenmark zu produzieren. In dem unwahrscheinlichen Fall, daà wir mit der Chemo eine molekulare Remission erreichen, können wir Kate körpereigene Zellen entnehmen und wieder zuführen â eine Eigenspende. Bei einem Rückfall käme noch die Transplantation von fremdem Knochenmark in Frage, das in Kates Körper Blutzellen produziert. Hat Kate Geschwister?«
»Einen Bruder«, sage ich. Mir kommt ein Gedanke, ein furchtbarer. »Könnte er die Krankheit auch haben?«
»Das ist höchst unwahrscheinlich. Aber er wäre vielleicht ein passender Spender für eine allogene Transplantation. Wenn nicht, schalten wir die
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