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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Onkologiestation des Krankenhauses hat etwas überraschend Tröstliches an sich, verleiht mir das Gefühl, als wäre ich Mitglied eines Clubs. Angefangen bei dem freundlichen Parkplatzwärter, der uns fragt, ob wir zum ersten Mal da sind, bis hin zu den Scharen von Kindern, die mit rosafarbenen Brechschalen unterm Arm herumlaufen, wie andere Kinder mit Teddybären – sie alle waren schon vor uns da, und Gruppen vermitteln Sicherheit.
    Wir fahren mit dem Aufzug in den zweiten Stock, zum Büro von Dr. Harrison Chance. Schon sein Name irritiert mich.
    Â»Er kommt viel zu spät«, sage ich zu Brian, als ich zum zwanzigsten Mal auf die Uhr sehe. Eine vertrocknete Lilie auf der Fensterbank liegt in den letzten Zügen. Ich hoffe, er geht mit Menschen besser um.
    Um Kate zu belustigen, die langsam zappelig wird, blase ich einen Gummihandschuh auf und mache einen Knoten rein; es sieht aus wie ein Hahnenkamm. Auf dem Handschuhspender neben der Spüle hängt ein auffälliges Schild, das Eltern bittet, die Handschuhe für so etwas nicht zu mißbrauchen. Wir spielen gerade damit Volleyball, als Dr. Chance hereinkommt, ohne sich auch nur mit einem Wort für die Verspätung zu entschuldigen.
    Â»Mr. und Mrs. Fitzgerald.« Er ist groß und gertenschlank, mit blitzenden blauen Augen, die durch dicke Brillengläser vergrößert werden, und einem verkniffenen Mund. Er fängt unseren selbstgebastelten Ballon mit einer Hand auf und schaut ihn sich stirnrunzelnd an. »Tja, wie ich sehe, haben wir da schon ein Problem.«
    Brian und ich wechseln einen Blick. Dieser kaltherzige Mann soll uns durch diesen Krieg führen, unser General, unser Retter in der Not sein? Bevor wir dazu kommen, mit Erklärungen einen Rückzieher zu machen, nimmt Dr. Chance einen Filzstift und zeichnet auf den Handschuh ein Gesicht, samt einer Nickelbrille, wie er eine hat. »So«, sagt er, und mit einem Lächeln, das ihn völlig verwandelt, gibt er ihn Kate zurück.
    Ich sehe meine Schwester Suzanne nur ein- bis zweimal im Jahr. Sie wohnt weniger als eine Stunde mit dem Auto und zigtausend philosophische Überzeugungen weit entfernt.
    Soweit ich das beurteilen kann, kriegt Suzanne einen Haufen Geld dafür, daß sie andere Leute herumschikaniert. Was bedeutet, daß sie ihre Grundausbildung praktisch bei mir absolviert hat. Unser Vater starb an seinem neunundvierzigsten Geburtstag beim Rasenmähen, und unsere Mutter ist nie richtig darüber hinweggekommen. Suzanne, zehn Jahre älter als ich, übernahm das Regiment. Sie sorgte dafür, daß ich meine Hausaufgaben machte und Jura studierte und große Träume hegte. Sie war klug und wunderschön und nie um Worte verlegen. Sie war in der Lage, für jede Katastrophe das logische Gegenmittel zu finden, und genau diese Fähigkeit machte sie in ihrem Job so erfolgreich. Sie fühlte sich in einem Sitzungssaal genauso wohl wie beim Joggen am Ufer des Charles River. Bei ihr sah alles leicht aus. Wer hätte nicht gern so ein Vorbild?
    Mein erster Gegenschlag war der, einen Mann zu heiraten, der keinen College-Abschluß hatte. Mein zweiter und dritter die beiden Schwangerschaften. Ich glaube, als sich abzeichnete, daß ich keine Ambitionen hatte, eine Staranwältin zu werden, konnte sie mich mit Recht als Versagerin einstufen. Und ich glaube, bis jetzt konnte ich mir mit Recht einbilden, keine zu sein.
    Verstehen Sie mich nicht falsch, sie liebt ihre Nichte und ihren Neffen. Sie schickt ihnen Schnitzereien aus Afrika, Muscheln aus Bali, Schokolade aus der Schweiz. Jesse wünscht sich so ein Glasbüro, wie sie eins hat, wenn er mal groß ist. »Wir können nicht alle Tante Zanne sein«, sage ich zu ihm, womit ich eigentlich meine, daß ich es nicht kann.
    Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden damit angefangen hat, nicht mehr zurückzurufen, aber so war es leichter. Es gibt nichts Schlimmeres als Schweigen, das wie schwere Perlen an einer zu zarten Unterhaltung hängt. Daher lasse ich eine ganze Woche verstreichen, ehe ich zum Telefon greife. Ich wähle ihre Büronummer. »Apparat Suzanne Crofton«, sagt ein Mann.
    Â»Ja.« Ich zögere. »Ist sie da?«
    Â»Sie ist in einer Besprechung.«
    Â»Bitte …« Ich hole tief Luft. »Bitte sagen Sie ihr, ihre Schwester ist am Apparat.«
    Einen Augenblick später habe ich ihre ruhige, kühle Stimme im Ohr.

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