Beim Leben meiner Schwester
nationale Knochenmarkspenderkartei ein. Ein Transplantat von einem Fremden ist allerdings erheblich gefährlicher als das von einem Familienangehörigen â das Sterblichkeitsrisiko ist sehr viel höher.«
Die Informationen sind endlos, eine Reihe von Wurfpfeilen, die so schnell auf mich abgeworfen werden, daà ich die Stiche schon nicht mehr spüre. Man sagt uns doch eigentlich ganz deutlich: Denken Sie nicht nach. Geben Sie Ihr Kind einfach in unsere Hände, denn sonst wird es ster ben . Auf jede Antwort, die sie uns geben, folgt eine neue Frage von uns.
Wachsen ihre Haare wieder nach?
Wird sie je zur Schule gehen?
Kann sie mit anderen Kindern spielen?
Ist sie durch die Umgebung krank geworden, in der wir wohnen?
Ist sie durch uns krank geworden?
»Wie wird es sein«, höre ich mich selbst fragen, »falls sie stirbt?«
Dr. Chance blickt mich an. »Das hängt davon ab, was bei ihr akut passiert«, erklärt er. »Bei einer Infektion wird sie Atemnot haben und an einem Beatmungsgerät angeschlossen sein. Bei einer Hämorrhagie verliert sie das BewuÃtsein und verblutet innerlich. Bei Organversagen kommt es darauf an, welche Organe betroffen sind. Häufig ist es ein Zusammenspiel von mehreren Ursachen.«
»Wird sie es mitbekommen«, frage ich, obwohl ich eigentlich meine, Wie soll ich das überleben?
»Mrs. Fitzgerald«, sagt er, als hätte er meine unausgesprochene Frage gehört, »von den zwanzig Kindern, die heute hier sind, werden zehn in einigen Jahren tot sein. Ich weià nicht, zu welcher Gruppe Kate gehören wird.«
Um Kates Leben zu retten, muà ein Teil von ihr sterben. Das ist Sinn und Zweck der Chemotherapie â alle Leukämiezellen sollen vernichtet werden. Dafür ist bei Kate unter dem Schlüsselbein ein zentraler Venenkatheter angelegt worden, ein dreilumiger Port, durch den verschiedene Medikamente und intravenöse Flüssigkeiten verabreicht sowie Blutentnahmen vorgenommen werden können. Die Schläuche, die aus ihrer schmalen Brust sprieÃen, kommen mir vor wie aus einem Science-fiction-Film.
Man hat schon ein Basis-EKG mit ihr gemacht, um sicherzugehen, daà ihr Herz die Chemo übersteht. Sie hat Dexamethason-Augentropfen bekommen, weil eines der Medikamente Bindehautentzündungen verursacht. Man hat ihr aus dem Port Blut abgenommen, um ihre Nierenund Leberwerte zu ermitteln.
Die Krankenschwester schlieÃt den Infusionsbeutel an und streicht Kate das Haar glatt. »Wird sie was spüren?« frage ich.
»Nein. He, Kate, sieh mal.« Sie zeigt auf den Beutel mit Daunorubicin, der zum Schutz gegen Licht mit einem dunklen Beutel umhüllt ist. Er ist mit bunten Aufklebern übersät, die sie mit Kate gebastelt hat, während wir warten muÃten. Ich habe einen Teenager gesehen, an dessen Infusionsbeutel ein Post-it-Zettel pappte: Jesus rettet, Chemo bringtâs .
Folgendes läuft ihr jetzt durch die Venen: das Daunorubicin, 50 mg in 25 ccm D5W; Cytarabin, 46 mg in einer D5W-Infusion, vierundzwanzig Stunden durchgehend am Tropf; Allopurinol, 92-mg IV. Mit anderen Worten, Gift. Ich stelle mir vor, daà in ihr eine gewaltige Schlacht stattfindet. Ich stelle mir glänzende Armeen vor, Opfer, die durch ihre Poren ausgedünstet werden.
Uns wird gesagt, daà Kate sehr wahrscheinlich in den nächsten paar Tagen übel wird, doch schon nach zwei Stunden muà sie sich übergeben. Brian drückt den Rufknopf, und eine Krankenschwester kommt herein. »Wir geben ihr etwas Reglan«, sagt sie und verschwindet.
Wenn Kate sich nicht erbricht, weint sie. Ich sitze auf der Bettkante, halte sie schräg auf meinem SchoÃ. Die Krankenschwestern haben keine Zeit, sich richtig um sie zu kümmern. Da sie knapp an Personal sind, verabreichen sie ihr über den Tropf Antiemetika. Sie warten ein paar Minuten ab, wie Kate reagiert, und müssen dann aber gleich weiter zu einem anderen Patienten. Der Rest bleibt uns überlassen. Brian, der sonst schon den Rückzug antritt, wenn eins von den Kindern sich den Magen verdorben hat, kümmert sich rührend um sie: Er wischt ihr die Stirn, hält sie an den dünnen Schultern, tupft ihr den Mund ab. »Du stehst das durch«, murmelt er jedes Mal, wenn sie brechen muÃ, aber vielleicht redet er nur mit sich selbst.
Und auch ich bin über mich selbst erstaunt. Mit grimmiger Entschlossenheit mache ich ein Ballett
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