Beim Leben meiner Schwester
der Baum herum, und das Boot jagte in die entgegengesetzte Richtung.
»Ich brauche Koordinaten«, befahl mein Vater.
Das hieÃ, ich muÃte nach unten in die Kabine, wo die Karten lagen, und ausrechnen, auf welchem Kurs wir die nächste Streckenboje erreichten. Doch als ich unten war, nicht mehr an der frischen Luft, wurde es noch schlimmer. Kaum hatte ich die Karte aufgeschlagen, kotzte ich sie voll.
Mein Vater sah nur aus einem einzigen Grund nach mir: weil ich ihm keine Informationen lieferte. Er steckte den Kopf in die Kabine und sah mich in meinem Erbrochenen sitzen. »Das darf doch nicht wahr sein«, knurrte er und verschwand wieder.
Ich muÃte all meine Kraft zusammennehmen, um mich hinter ihm her wieder nach oben zu hieven. Er rià das Ruder hin und her. Ich war Luft für ihn. Und als er den Kurs änderte, warnte er mich nicht. Das Segel zischte quer über das Boot, schlitzte den Saum des Himmels auf. Der Baum schlug herum, knallte mir gegen den Hinterkopf und schlug mich k.o.
Als ich wieder zu mir kam, stahl mein Vater gerade einem anderen Boot den Wind, kurz vor der Ziellinie. Der Regen hatte sich zu einem leichten Nieseln abgeschwächt, und als mein Vater unser Boot zwischen den Luftstrom und unseren engsten Konkurrenten brachte, verlor das andere Boot an Fahrt. Wir gewannen um Sekunden.
Mein Vater wies mich an, die Kabine sauberzumachen und ein Taxi zu nehmen, während er mit dem Boot zum Yachtclub segelte, um zu feiern. Als ich eine Stunde später auch dort eintraf, war er bereits in Hochstimmung und trank Scotch aus dem Kristallpokal, den er gewonnen hatte. »Da kommt deine Crew, Cam«, rief ein Freund. Mein Vater hob den Siegerpokal zum GruÃ, trank einen tiefen Schluck und knallte ihn dann so fest auf die Bar, daà der Henkel abbrach.
»Oh«, sagte ein anderer Segler, »wie schade.«
Mein Vater blickte mir unverwandt in die Augen. »Das kann man wohl sagen«, sagte er.
Am Heck von praktisch jedem dritten Wagen in Rhode Island sieht man einen von diesen rot-weiÃen Stickern, auf denen den Opfern von Verkehrsunfällen gedacht wird. Meine Freundin Katy DeCubellis wurde von einem betrun kenen Autofahrer getötet. Mein Freund John Sisson wurde von einem betrunkenen Autofahrer getötet . Die Aufkleber werden auf Schulfesten und Benefizveranstaltungen und in Friseursalons verteilt, und es spielt keine Rolle, ob man den oder die Getötete kannte. Man pappt sich den Aufkleber aus Solidarität ans Fahrzeug und weil man insgeheim froh ist, von der Tragödie nicht betroffen zu sein.
Letztes Jahr kamen Aufkleber mit dem Namen eines neuen Opfers hinzu: Dena DeSalvo, eine Zwölfjährige, die ich indirekt kannte. Sie war die Tochter eines Richters, der angeblich kurz nach der Beerdigung seines Kindes bei einer Sorgerechtsverhandlung zusammenbrach und sich dann für drei Monate beurlauben lieÃ, um zu trauern. Ebendieser Richter hat jetzt den Vorsitz im Fall Anna Fitzgerald.
Als ich mich auf den Weg zum Garrahy Complex mache, wo das Familiengericht untergebracht ist, frage ich mich, ob ein Mann, der diese Last zu tragen hat, überhaupt ein Verfahren leiten kann, das bei einem positiven Ausgang für meine Mandantin den Tod ihrer halbwüchsigen Schwester beschleunigen wird.
Am Eingang steht ein neuer Pförtner, ein Mann mit muskelbepacktem Hals, aber womöglich wenig Grips. »Tut mir leid«, sagt er. »Keine Hunde.«
»Das ist ein Servicehund.«
Verwirrt beugt sich der Pförtner vor und sieht sich meine Augen an. Ich mache das gleiche bei ihm. »Ich bin kurzsichtig. Er hilft mir die StraÃenschilder lesen.« Judge und ich gehen um den Mann herum und streben den Korridor hinunter Richtung Gerichtssaal.
Drinnen schlägt sich der Gerichtssekretär gerade mit Anna Fitzgeralds Mutter herum. Zumindest vermute ich, daà sie es ist, obwohl sie nicht die geringste Ãhnlichkeit mit ihrer Tochter hat, die neben ihr steht. »Ich bin sicher«, sagt Sara Fitzgerald, »daà der Richter in diesem Fall dafür Verständnis haben wird.« Ihr Mann steht ein paar Schritte hinter ihr, abseits.
Als Anna mich sieht, malt sich Erleichterung auf ihrem Gesicht ab. Ich wende mich an den Gerichtssekretär. »Ich bin Campbell Alexander«, sage ich. »Gibt es ein Problem?«
»Ich versuche gerade, Mrs. Fitzgerald zu erklären, daà nur Anwälte ins Richterzimmer dürfen.«
»Gut, ich
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