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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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ich mich, wie ich wohl behandelt würde, wenn ich so wäre wie alle anderen auch. Vielleicht bin ich ja eine miese Ratte, aber keiner würde es sich trauen, mir das ins Gesicht zu sagen. Vielleicht halten mich alle für unmöglich oder häßlich oder blöd, aber sie müssen nett zu mir sein, weil ich ja möglicherweise nur aufgrund der besonderen Umstände meines Lebens so geworden bin.
    Deshalb frage ich mich, ob das, was ich jetzt tue, einfach nur meine wahre Natur ist.
    Die Scheinwerfer eines anderen Autos spiegeln sich im Rückspiegel und leuchten um Jesses Augen herum auf wie eine grünliche Schutzbrille. Er fährt mit einem Handgelenk auf dem Lenkrad, lässig. Er müßte dringend zum Friseur. »Dein Auto riecht nach Rauch«, sage ich.
    Â»Stimmt. Aber das überdeckt den Duft von verschüttetem Whiskey.« Seine Zähne blitzen in der Dunkelheit auf. »Wieso? Stört es dich?«
    Â»Ein bißchen.«
    Jesse greift an mir vorbei zum Handschuhfach. Er nimmt eine Packung Merits und ein Zippo-Feuerzeug heraus, zündet sich eine an und pustet den Rauch in meine Richtung. »Sorry«, sagt er, aber nur nebenbei.
    Â»Kann ich eine haben?«
    Â»Eine was?«
    Â»Eine Zigarette.« Sie sind so weiß, daß sie fast leuchten.
    Â» Du willst eine Zigarette?« Jesse lacht los.
    Â»Das ist kein Witz«, sage ich.
    Jesse hebt eine Augenbraue, reißt das Lenkrad so heftig herum, daß ich denke, der Jeep kippt um. Wir kommen in einer Wolke aus Schotter auf dem Seitenstreifen zum Stehen. Jesse schaltet die Innenbeleuchtung ein und schüttelt eine Zigarette aus der Packung.
    Sie fühlt sich zwischen meinen Fingern viel zu zart an, wie der feine Knochen eines Vogels. Ich halte sie so, wie ich meine, daß eine Diva es macht, eingeklemmt zwischen Zeige- und Mittelfinger. Ich führe sie an die Lippen.
    Â»Du mußt sie erst anmachen.« Jesse lacht, und er läßt das Zippo schnippen.
    Kommt gar nicht in Frage, daß ich mich zu einer Flamme vorbeuge. Wahrscheinlich brennen eher meine Haare als die Zigarette.
    Â»Mach du das für mich«, sage ich.
    Â»Nee. Wenn du es lernen willst, dann auch richtig.« Er läßt das Feuerzeug erneut aufflammen.
    Ich halte die Zigarette an die Flamme, sauge ganz fest, so wie ich es bei Jesse gesehen habe. Meine Brust explodiert, und ich muß so fürchterlich husten, daß ich einen Moment lang tatsächlich meine, ich könnte meine Lunge ganz hinten in der Kehle schmecken, rosa und schwammig. Jesse amüsiert sich über mich und nimmt mir die Zigarette aus der Hand, ehe ich sie fallen lasse. Er nimmt zwei tiefe Züge und wirft sie dann aus dem Fenster.
    Â»Aller Anfang ist schwer«, sagt er.
    Meine Stimme ist Schmirgelpapier. »Da könnte ich ja gleich einen Grill ablecken.«
    Während ich damit beschäftigt bin, mir in Erinnerung zu rufen, wie man atmet, fährt Jesse wieder los. »Wieso wolltest du es ausprobieren?«
    Ich zucke die Achseln. »Einfach so.«
    Â»Wenn du eine Liste mit Lastern haben willst, kann ich dir gern eine zusammenstellen.« Als ich nicht antworte, schaut er zu mir rüber. »Anna«, sagt er, »was du machst, ist nicht falsch.«
    Inzwischen rollt er auf den Parkplatz vom Krankenhaus. »Aber auch nicht richtig«, erwidere ich.
    Er stellt den Motor ab, macht aber keine Anstalten auszusteigen. »Hast du an den Drachen gedacht, der die Höhle bewacht?«
    Ich kneife die Augen zusammen. »Klartext bitte.«
    Â»Na ja, ich schätze, Mom schläft ungefähr anderthalb Meter von Kate entfernt.«
    Ach du Schande. Ich hab zwar keine Angst davor, daß meine Mutter mich rausschmeißen würde, aber sie wird mich ganz sicher nicht mit Kate allein lassen, und genau das ist im Augenblick mein größter Wunsch. Jesse fixiert mich. »Wenn du Kate siehst, fühlst du dich auch nicht besser.«
    Ich kann nicht erklären, warum, aber ich muß einfach wissen, daß es ihr einigermaßen gutgeht, zumindest jetzt, obwohl ich Schritte unternommen habe, die dem ein Ende machen werden.
    Aber ausnahmsweise scheint mich jemand zu verstehen. Jesse starrt zum Autofenster hinaus. Ȇberlaß das mir«, sagt er.
    Wir waren elf und vierzehn, und wir trainierten für das ›Guinness-Buch der Rekorde‹. Bestimmt hatte es noch keine zwei Schwestern gegeben, die gleichzeitig so lange auf dem Kopf stehen konnten,

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