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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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hätte es fast geschafft, aber dann hechtete Jesse hinter ihr her und warf sich auf sie, so daß sie mit voller Wucht auf den Boden knallte.
    In dem Moment blieb die Zeit stehen. Kate lag da, alle viere von sich gestreckt, und rührte sich nicht mehr. Einen Atemzug später war mein Vater bei ihr und stieß Jesse beiseite. »Bist du verrückt geworden?«
    Â»Ich hab nicht dran gedacht!«
    Meine Mutter schrie: »Tut dir was weh? Kannst du dich aufsetzen?«
    Aber als Kate sich auf den Rücken rollte, lächelte sie. »Mir tut nichts weh. Ich fühle mich toll.«
    Meine Eltern sahen sich an. Keiner von ihnen konnte so wie ich, so wie Jesse, nachvollziehen, daß du dir, ganz gleich, wer du bist, immer auch irgendwie wünschst, jemand anderer zu sein – und wenn dieser Wunsch auch nur für eine Millisekunde in Erfüllung geht, ist das ein Wunder. »Er hat nicht dran gedacht«, sagte Kate zu niemand Bestimmtem, und sie lag auf dem Rücken und strahlte zu der kalten, hellsichtigen Sonne hinauf.
    Krankenhauszimmer sind nie ganz dunkel; immer leuchtet für den Fall einer Katastrophe hinter dem Bett irgendeine Anzeige, an der Pfleger und Ärzte sich orientieren können. Ich habe Kate hundertmal in so einem Bett gesehen, wenn auch schon mal mit unterschiedlichen Schläuchen und Drähten. Und immer sieht sie kleiner aus, als ich sie in Erinnerung habe.
    Ich setze mich so behutsam wie möglich. Die Adern an Kates Hals und auf ihrer Brust sind eine Straßenkarte, Highways, die nirgendwo hinführen. Ich bilde mir ein, ich könnte diese bösartigen Leukämiezellen wie ein Gerücht durch ihren Blutkreislauf ziehen sehen.
    Als sie die Augen aufschlägt, falle ich fast vom Bett, eine Szene wie in ›Der Exorzist‹. »Anna?« sagt sie und starrt mich an. Seit Jesse uns einmal, als wir klein waren, weisgemacht hatte, der Geist eines alten Indianers wäre zurückgekommen, um die Knochen zu holen, die irrtümlich unter unserem Haus begraben worden seien, hab ich sie nicht mehr so verängstigt gesehen.
    Wenn du eine Schwester hast und die stirbt, sagst du dann nicht mehr, daß du eine hast? Oder bist und bleibst du eine Schwester, auch wenn der andere Teil der Gleichung verschwunden ist?
    Ich krieche auf das Bett, das zwar schmal ist, aber doch groß genug für uns beide. Ich lege meinen Kopf auf ihre Brust, so nah an ihrem Port, daß ich die Flüssigkeit sehen kann, die in sie hineintropft. Jesse irrt sich – ich bin nicht hergekommen, weil ich mich besser fühle, wenn ich Kate sehe. Ich bin gekommen, weil ich ohne sie kaum noch weiß, wer ich bin.

DONNERSTAG
    Du, wenn du vernünftig wärst,
    Wenn ich dir sage, daß die Sterne Zeichen senden,
    jedes einzelne fürchterlich,
    Würdest du dich nicht umdrehen und
    mir antworten
    Â»Die Nacht ist wunderbar.«
    D. H. LAWRENCE,
    â€ºUnder the Oak‹

BRIAN
    Anfangs wissen wir nie, ob uns ein richtiger Brand erwartet oder ein Qualmer, wie wir sagen. Letzte Nacht gingen um 2 Uhr 46 oben die Lichter an. Auch die Alarmglocken schrillten, aber eigentlich höre ich die gar nicht richtig. Zehn Sekunden später war ich angezogen und raus aus meinem Zimmer auf der Wache. Zwanzig Sekunden später hatte ich die Schutzhose mit den langen elastischen Hosenträgern an und schlüpfte in den Schildkrötenpanzer meiner Jacke. Als zwei Minuten vergangen waren, steuerte Caesar unseren Löschzug auf die Straßen von Upper Darby; Paulie und Red, die für die tragbaren Feuerlöscher beziehungsweise die Hydrantenanschlüsse zuständig waren, saßen hinter uns.
    Kurz darauf schaltete sich unser Verstand mit kleinen, hellen Gedankenblitzen ein: Wir überprüften die Atemschutzgeräte und zogen unsere Handschuhe an. Die Einsatzleitung gab durch, daß auf dem Hoddington Drive entweder ein ganzes Gebäude brannte oder nur eine Wohnung. »Hier links rein«, sagte ich zu Caesar. Der Hoddington Drive war nur acht Querstraßen von meinem Haus entfernt.
    Das Haus sah aus wie ein Drachenmaul. Caesar fuhr so weit herum, wie er konnte, damit ich es mir möglichst von drei Seiten ansehen konnte. Dann stiegen wir aus dem Wagen und starrten einen Moment lang darauf, vier Davids gegen einen Goliath. »Schließ einen B-Schlauch an«, sagte ich zu Caesar, der diesmal die Motorpumpe bediente. Eine Frau im Nachthemd kam schluchzend mit drei Kindern im

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