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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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gutgeht?« fragt Julia.
    Â»Dann würde sie uns wohl kaum verklagen wollen.« Ich zögere. »Sara meint, sie möchte Zuwendung.«
    Â»Und was meinen Sie?«
    Um Zeit zu schinden, esse ich etwas von dem Rührei. Der Meerrettich darin schmeckt überraschend gut. Er betont den leichten Orangengeschmack. Ich lobe Julia Romano dafür.
    Sie faltet ihre Serviette neben ihrem Teller zusammen. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Mr. Fitzgerald.«
    Â»Ich denke, so einfach ist das nicht.« Ich lege bedächtig mein Besteck aus den Händen. »Haben Sie Geschwister?«
    Â»Sechs ältere Brüder und eine Zwillingsschwester.«
    Ich stoße einen leisen Piff aus. »Ihre Eltern müssen ja eine Engelsgeduld haben.«
    Sie zuckt die Achseln. »Gute Katholiken eben. Ich weiß auch nicht, wie sie es geschafft haben, aber von uns ist keiner zu kurz gekommen.«
    Â»Haben Sie das immer so gesehen?« frage ich. »Haben Sie als Kind nicht auch mal das Gefühl gehabt, Ihre Geschwister würden vorgezogen?« Ihr Gesicht spannt sich ein winziges bißchen an, und ich habe ein schlechtes Gewissen, sie so zur Rede zu stellen. »Wir wissen alle, daß wir unsere Kinder alle gleich lieben sollen, aber das funktioniert nicht immer.« Ich stehe auf. »Haben Sie noch etwas Zeit? Ich würde Sie gern mit jemandem bekannt machen.«
    Letzten Winter mußten wir mit dem Rettungswagen zu einem Einsatz raus aufs Land. Der Fahrer eines Schneeräumers hatte uns verständigt, nachdem er einen Kunden, für den er die Einfahrt freiräumen sollte, vor dem Haus gefunden hatte. Anscheinend war der Hausbesitzer am Abend zuvor aus seinem Auto gestiegen und ausgerutscht und war dann auf dem Kies festgefroren. Er wäre fast von dem Schneeräumer überrollt worden, weil der Fahrer ihn für eine Schneewehe hielt.
    Als wir ankamen, hatte er fast acht Stunden in der Kälte gelegen und war praktisch nur noch ein Eiswürfel ohne Puls. Seine Knie waren angewinkelt. Das weiß ich noch, weil sie in die Luft ragten, als wir ihn endlich losbekommen hatten und auf eine Trage legten. Im Rettungswagen drehten wir die Heizung voll auf und fingen dann an, ihm die Kleidung vom Körper zu schneiden. Als wir die Formulare für den Transport ins Krankenhaus ausgefüllt hatten, hatte der Typ sich schon wieder aufgesetzt und unterhielt sich mit uns.
    Ich will damit nur sagen, daß auch dann noch Wunder geschehen, wenn man es schon nicht mehr für möglich hält.
    Es ist ein Klischee, aber ich bin Feuerwehrmann geworden, weil ich Menschen retten wollte. Deshalb wußte ich gleich in dem Moment, als ich mit Luisa auf den Armen aus der von Feuer umhüllten Tür trat und ihre Mutter uns sah und auf die Knie fiel, daß ich gute Arbeit geleistet hatte. Dann kam sie zusammen mit dem Sanitäter aus der zweiten Crew angestürzt, und der legte der Kleinen eine Infusion an und verabreichte ihr Sauerstoff. Das Kind hustete und war völlig verängstigt, aber ansonsten war es wohlauf.
    Das Feuer war schon fast ausgegangen, und die Jungs waren mit Bergungs- und Sicherungsmaßnahmen beschäftigt. Ein Schleier aus Rauch hing vor dem Nachthimmel. Im Sternbild Skorpion konnte ich keinen einzigen Stern entdecken. Ich zog mir die Handschuhe aus und rieb mir die Augen, die noch stundenlang brennen würden. »Gute Arbeit«, sagte ich zu Red, der den Schlauch aufrollte.
    Â»Gute Rettung, Captain«, rief er zurück.
    Natürlich wäre es leichter gewesen, wenn Luisa in ihrem Zimmer gewesen wäre, so wie ihre Mutter gedacht hatte. Aber Kinder bleiben nun mal nicht da, wo sie sein sollten. Du drehst dich einmal um, und schwups ist sie nicht mehr in ihrem Zimmer, sondern versteckt sich im Schrank; du drehst dich einmal um, und schwups ist sie nicht mehr drei, sondern dreizehn. Eltern zu sein bedeutet eigentlich bloß, die Kinder nicht aus den Augen zu verlieren, zu hoffen, daß sie nicht so weit weglaufen, daß man nicht mehr sieht, was sie als nächstes tun.
    Ich nahm den Helm ab, dehnte meine Nackenmuskulatur und schaute zu der Ruine hoch, die mal ein Zuhause gewesen war. Plötzlich spürte ich, wie sich Finger um meine Hand schlossen. Die Frau, die hier wohnte, stand mit Tränen in den Augen neben mir. Sie hielt noch immer ihren jüngsten Sohn in den Armen. Die anderen Kinder saßen unter Reds Aufsicht im Löschwagen. Stumm führte sie

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