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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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nervt. Meine Methode war die, daß ich so tat, als wäre Kate schon auf Besuch aus dem Jenseits. Als ich nicht mehr mit ihr sprach, dachte sie, sie hätte irgendwie Mist gebaut, was wahrscheinlich auch stimmte. Es gab Tage, an denen heulte ich von morgens bis abends. An anderen hatte ich das Gefühl, ich hätte Blei im Magen. An wieder anderen funktionierte ich einfach so gut ich konnte: Anziehen, Bett machen und Vokabeln lernen, weil das einfacher war, als irgendwas anderes zu tun.
    Aber manchmal kam es auch vor, daß ich den Schleier ein wenig lüftete und mir alles Mögliche ausdachte. Wie es zum Beispiel wäre, an der Uni von Hawaii Ozeanographie zu studieren. Oder Fallschirm zu springen. Oder nach Prag zu ziehen. Oder Gott weiß was noch alles für verrückte Dinge zu tun. Ich versuchte dann, mich in eine dieser Vorstellungen hineinzuzwängen, aber es war so, als hätte ich Turnschuhe an, die zwei Nummern zu klein sind – du hältst es ein paar Schritte aus, aber dann tut es einfach zu weh. Ich bin überzeugt, in meinem Verstand sitzt ein Zensor mit einem roten Stempel, der mich daran erinnert, was ich nicht einmal denken darf, so verlockend es auch ist.
    Ist wahrscheinlich auch gut so. Ich glaube, wenn ich mir wirklich vorstellen könnte, wer ich bin, wenn Kate nicht mehr da ist, ich würde mir nicht gefallen.
    Meine Eltern und ich sitzen zusammen an einem Tisch in der Krankenhauscafeteria, obwohl das Wort zusammen hier sehr weit zu verstehen ist. Es ist eher so, als wären wir Astronauten, jeder mit einem eigenen Helm, jeder mit einer eigenen Luftversorgung. Meine Mutter hat den kleinen rechteckigen Behälter mit den Zuckertütchen vor sich. Sie sortiert sie, erst die mit Süßstoff, dann die mit weißem und schließlich die mit grobem braunem Zucker. Sie schaut zu mir hoch.
    Â»Schätzchen, ich glaube, ich weiß, warum du das alles tust«, setzt meine Mutter an. »Und vielleicht hast du recht, vielleicht müssen dein Vater und ich uns mehr um dich kümmern. Aber Anna, dafür brauchen wir keinen Richter.«
    Mein Herz ist ein weicher Schwamm ganz unten in meiner Kehle. »Du meinst, ich muß es nicht mehr machen?«
    Als sie lächelt, fühlt es sich an wie der erste warme Tag im März – wenn du dich nach einer Ewigkeit Schnee plötzlich wieder erinnerst, wie sich der Sommer hinten an den Waden und auf dem Scheitel anfühlt. »Ja«, sagt meine Mutter, »genau das meine ich.«
    Keine Blutabnahme mehr. Keine Granulozyten oder Lymphozyten oder Stammzellen mehr. Keine Niere mehr. »Wenn ihr wollt, sag ich es Kate«, biete ich an. »Dann müßt ihr das nicht machen.«
    Â»Laß nur. Sobald Richter DeSalvo Bescheid weiß, können wir so tun, als wäre nie was gewesen.«
    In meinem Hinterkopf fällt ein Hammer. »Aber … Kate wird doch bestimmt wissen wollen, warum ich nicht mehr für sie spende?«
    Meine Mutter wird ganz starr. »Ich habe deinen Antrag bei Gericht gemeint.«
    Ich schüttele heftig den Kopf, zum einen als Antwort auf das, was sie gesagt hat, zum anderen um den Knoten in meinem Bauch zu entwirren.
    Â»Um Himmels willen, Anna«, sagt meine Mutter wie vor den Kopf gestoßen. »Was haben wir dir denn nur getan?«
    Â»Es geht nicht darum, was ihr mir getan habt.«
    Â»Hast du vielleicht das Gefühl, du kommst zu kurz?«
    Â»Ihr hört mir ja gar nicht zu!« schreie ich, und in diesem Augenblick kommt Vern Stackhouse an unseren Tisch.
    Der Deputy blickt von mir zu meiner Mutter zu meinem Vater und ringt sich ein Lächeln ab. »Ich komme wohl nicht gerade gelegen«, sagt er. »Es tut mir ehrlich leid, Sara. Brian.« Er reicht meiner Mutter ein Kuvert, nickt und geht wieder.
    Sie zieht das Blatt Papier aus dem Umschlag und liest es, dann wendet sie sich an mich. »Was hast du ihm erzählt?« will sie wissen.
    Â»Wem?«
    Mein Vater nimmt das Schreiben. Es strotzt nur so von juristischen Formulierungen. »Was ist das hier?«
    Â»Ein Antrag auf eine einstweilige Verfügung.« Sie reißt meinem Vater das Blatt aus der Hand. »Ist dir klar, was das heißt? Willst du mich jetzt auch noch vor die Tür setzen lassen, damit ich keinen Kontakt zu dir habe? Willst du das wirklich?«
    Vor die Tür setzen? Ich kann nicht atmen. »Ich hab so etwas nicht gewollt.«
    Â»Na, dein Anwalt hat den Antrag bestimmt nicht von sich

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